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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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wachsen, Volutina bildete die deckenden Hülsen an den Aehren, Patelena öff¬
nete sie und ließ die Aehren hervorwachsen, Flora waltete über dem Blühen
des Getreides, Lacturcia behütete die jungen milchigen, Matura die reifenden
Aehren. Nuncina war die Göttin des Jätens. Messia des Erntens, Tutclina
des Bergens, Terenfis des Ausdreschens. Vor der Aussaat wurden in einem
priesterlichen Gebiet außer Tellus und Ceres folgende Genien angerufen:
Vervactor der Umbrccher des Bodens, Reparator der Schutzgeist der zweiten
Umbuchung, Jmporcitor der Pflüger, Jnsitor der Süer, Obarator der Ueber-
pflügcr, Occator der Egger, Sarritor der BeHacker, Subruncinator der Nach¬
jäter, Messor der Emder, Eonvector der Einfahrcr, Conditor der Speicherer,
Promitor der Aufgeber.

Mit dieser unaufhörlichen unmittelbaren Beziehung der Gottheit auf die
Wirklichkeit und das Leben, ging das Streben Hand in Hand und war zum
Theil in ihr begründet, sich der Hilfe der Götter für jeden einzelnen Fall durch
genau bestimmte heilige Gebrauche zu versichern, die mit peinlicher Gewissen¬
haftigkeit beobachtet wurden und ein höchst umfassendes und complicirtes gottes¬
dienstliches System bildeten. Um nur dies Eine hier anzuführen, so war der
geringste Verstoß bei einer heiligen Handlung genügend, um sie ungiltig zu
machen und ihre Wiederholung zu veranlassen: wenn z. B. bei einer Proces¬
sion vor den Götterbildern eine augenblickliche Stockung in Tanz oder Musik
eintrat, ein Pferd scheu wurde oder ein Knabe, der den Wagen führte, den
Zügel mit der linken Hand ergriff oder fallen ließ. Es soll vorgekommen sein,
daß um solcher Versehen willen dasselbe Opfer dreißigmal wiederholt wurde.
Mit derselben Peinlichkeit wurden die für alle Gelegenheiten angeordneten
Gebetsformeln festgehalten; wenn die Magistrate des römischen Volks die
Götter in der herkömmlichen Weise anriefen, wurde ihnen das Gebet aus
einem schriftlichen Text vorgelesen, neben dem Vorleser war eine zweite Per¬
son zur Controle angestellt, und eine dritte um jedes störende Wort zu ver-
bieten, endlich blies ein Flötenbläser dazu, damit ja nichts Störendes gehört
werde. "Also überall eine Neigung zum vxus oxerawm und zum Formel¬
wesen und Buchstnbendicnst. welcher in der That sehr an Mosaismus und Pha-
risäismus erinnert. Es ist nicht zu verkennen, daß ein solches Wesen, von
den ältesten Zeiten her in den Schulen der Priester und der einzelnen Colle-
gien überliefert, dem römischen Recht und dem strengen Formelwesen der Rö¬
mer mit ihrem starren Festhalten am Herkömmlichen sehr zum Frommen ge¬
reichen mochte. Aber ebenso einleuchtend ist es, daß eine freiere Ausfassung
der Religion und des göttlichen Wesens dabei nicht aufkommen konnte, am
wenigsten eine Mythologie und ein Cultus wie der griechische."

Wir müssen uns begnügen, hier einige allgemeine Gesichtspunkte anzu¬
deuten, von denen der Versasser bei seiner Betrachtung ausgehn mußte. Aber


wachsen, Volutina bildete die deckenden Hülsen an den Aehren, Patelena öff¬
nete sie und ließ die Aehren hervorwachsen, Flora waltete über dem Blühen
des Getreides, Lacturcia behütete die jungen milchigen, Matura die reifenden
Aehren. Nuncina war die Göttin des Jätens. Messia des Erntens, Tutclina
des Bergens, Terenfis des Ausdreschens. Vor der Aussaat wurden in einem
priesterlichen Gebiet außer Tellus und Ceres folgende Genien angerufen:
Vervactor der Umbrccher des Bodens, Reparator der Schutzgeist der zweiten
Umbuchung, Jmporcitor der Pflüger, Jnsitor der Süer, Obarator der Ueber-
pflügcr, Occator der Egger, Sarritor der BeHacker, Subruncinator der Nach¬
jäter, Messor der Emder, Eonvector der Einfahrcr, Conditor der Speicherer,
Promitor der Aufgeber.

Mit dieser unaufhörlichen unmittelbaren Beziehung der Gottheit auf die
Wirklichkeit und das Leben, ging das Streben Hand in Hand und war zum
Theil in ihr begründet, sich der Hilfe der Götter für jeden einzelnen Fall durch
genau bestimmte heilige Gebrauche zu versichern, die mit peinlicher Gewissen¬
haftigkeit beobachtet wurden und ein höchst umfassendes und complicirtes gottes¬
dienstliches System bildeten. Um nur dies Eine hier anzuführen, so war der
geringste Verstoß bei einer heiligen Handlung genügend, um sie ungiltig zu
machen und ihre Wiederholung zu veranlassen: wenn z. B. bei einer Proces¬
sion vor den Götterbildern eine augenblickliche Stockung in Tanz oder Musik
eintrat, ein Pferd scheu wurde oder ein Knabe, der den Wagen führte, den
Zügel mit der linken Hand ergriff oder fallen ließ. Es soll vorgekommen sein,
daß um solcher Versehen willen dasselbe Opfer dreißigmal wiederholt wurde.
Mit derselben Peinlichkeit wurden die für alle Gelegenheiten angeordneten
Gebetsformeln festgehalten; wenn die Magistrate des römischen Volks die
Götter in der herkömmlichen Weise anriefen, wurde ihnen das Gebet aus
einem schriftlichen Text vorgelesen, neben dem Vorleser war eine zweite Per¬
son zur Controle angestellt, und eine dritte um jedes störende Wort zu ver-
bieten, endlich blies ein Flötenbläser dazu, damit ja nichts Störendes gehört
werde. „Also überall eine Neigung zum vxus oxerawm und zum Formel¬
wesen und Buchstnbendicnst. welcher in der That sehr an Mosaismus und Pha-
risäismus erinnert. Es ist nicht zu verkennen, daß ein solches Wesen, von
den ältesten Zeiten her in den Schulen der Priester und der einzelnen Colle-
gien überliefert, dem römischen Recht und dem strengen Formelwesen der Rö¬
mer mit ihrem starren Festhalten am Herkömmlichen sehr zum Frommen ge¬
reichen mochte. Aber ebenso einleuchtend ist es, daß eine freiere Ausfassung
der Religion und des göttlichen Wesens dabei nicht aufkommen konnte, am
wenigsten eine Mythologie und ein Cultus wie der griechische."

Wir müssen uns begnügen, hier einige allgemeine Gesichtspunkte anzu¬
deuten, von denen der Versasser bei seiner Betrachtung ausgehn mußte. Aber


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[0396] wachsen, Volutina bildete die deckenden Hülsen an den Aehren, Patelena öff¬ nete sie und ließ die Aehren hervorwachsen, Flora waltete über dem Blühen des Getreides, Lacturcia behütete die jungen milchigen, Matura die reifenden Aehren. Nuncina war die Göttin des Jätens. Messia des Erntens, Tutclina des Bergens, Terenfis des Ausdreschens. Vor der Aussaat wurden in einem priesterlichen Gebiet außer Tellus und Ceres folgende Genien angerufen: Vervactor der Umbrccher des Bodens, Reparator der Schutzgeist der zweiten Umbuchung, Jmporcitor der Pflüger, Jnsitor der Süer, Obarator der Ueber- pflügcr, Occator der Egger, Sarritor der BeHacker, Subruncinator der Nach¬ jäter, Messor der Emder, Eonvector der Einfahrcr, Conditor der Speicherer, Promitor der Aufgeber. Mit dieser unaufhörlichen unmittelbaren Beziehung der Gottheit auf die Wirklichkeit und das Leben, ging das Streben Hand in Hand und war zum Theil in ihr begründet, sich der Hilfe der Götter für jeden einzelnen Fall durch genau bestimmte heilige Gebrauche zu versichern, die mit peinlicher Gewissen¬ haftigkeit beobachtet wurden und ein höchst umfassendes und complicirtes gottes¬ dienstliches System bildeten. Um nur dies Eine hier anzuführen, so war der geringste Verstoß bei einer heiligen Handlung genügend, um sie ungiltig zu machen und ihre Wiederholung zu veranlassen: wenn z. B. bei einer Proces¬ sion vor den Götterbildern eine augenblickliche Stockung in Tanz oder Musik eintrat, ein Pferd scheu wurde oder ein Knabe, der den Wagen führte, den Zügel mit der linken Hand ergriff oder fallen ließ. Es soll vorgekommen sein, daß um solcher Versehen willen dasselbe Opfer dreißigmal wiederholt wurde. Mit derselben Peinlichkeit wurden die für alle Gelegenheiten angeordneten Gebetsformeln festgehalten; wenn die Magistrate des römischen Volks die Götter in der herkömmlichen Weise anriefen, wurde ihnen das Gebet aus einem schriftlichen Text vorgelesen, neben dem Vorleser war eine zweite Per¬ son zur Controle angestellt, und eine dritte um jedes störende Wort zu ver- bieten, endlich blies ein Flötenbläser dazu, damit ja nichts Störendes gehört werde. „Also überall eine Neigung zum vxus oxerawm und zum Formel¬ wesen und Buchstnbendicnst. welcher in der That sehr an Mosaismus und Pha- risäismus erinnert. Es ist nicht zu verkennen, daß ein solches Wesen, von den ältesten Zeiten her in den Schulen der Priester und der einzelnen Colle- gien überliefert, dem römischen Recht und dem strengen Formelwesen der Rö¬ mer mit ihrem starren Festhalten am Herkömmlichen sehr zum Frommen ge¬ reichen mochte. Aber ebenso einleuchtend ist es, daß eine freiere Ausfassung der Religion und des göttlichen Wesens dabei nicht aufkommen konnte, am wenigsten eine Mythologie und ein Cultus wie der griechische." Wir müssen uns begnügen, hier einige allgemeine Gesichtspunkte anzu¬ deuten, von denen der Versasser bei seiner Betrachtung ausgehn mußte. Aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/396>, abgerufen am 22.12.2024.