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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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reichs und bei dem Vorzug eines festen Wollens die erste Stimme für sich in
Anspruch nimmt. Daß solche gemüthliche und persönliche Politik ihre großen
Bedenken hat, ist klar, daß sie die Ruhe Europas fortwährend bedrohen muß.
läßt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit schließen. Sämmtliche Großmächte
haben dringende Ursache, sich dagegen zu verwahren, daß der Kaiser, sobald
ihm das Verhältniß eines europäischen Staates zum andern nicht gefällt, so¬
fort diplomatische Verhandlungen darüber eröffnet, zuletzt eine Friedens- und
Kricgsfrage daraus herleitet.

Aber zu der Unruhe und Unsicherheit, welche in die Politik der europäi¬
schen Staaten durch seine Person gekommen ist. treten noch andere Bedenken.
Es ist dem Kaiser nicht gelungen, in Frankreich einen sichern Rechtszustand
herzustellen. Ob dies bei der gegenwärtigen Lage Frankreichs auch dem besten
Manne und dem reinsten Willen vollständig gelungen wäre, darf man be¬
zweifeln. Nicht weil die politischen Männer Frankreichs an sich schlechter waren,
als irgend wo anders, sondern weil das schöne Land und ein begabtes Volk
noch mitten in den Krisen einer großen Revolution liegen, weil alle Regie¬
rungen von den Bourbons an mit dem Makel eines unsichern Prätendenten,
thums behaftet waren, weil alle geistige und politische Selbstständigkeit des
Landes in der Tyrannei einer großen Stadt untergegangen ist. Ein Staat,
in welchem jeder Flurschütz eines Dorfes von Paris aus angestellt werden
muß, jede kleine Brücke des entferntesten Departements durch ein Decret der
höchsten Administrativbchörden reparirt wird, wo der kecke und grundsatzlose
Journalist der Hauptstadt eine hundertfach höhere Bedeutung hat, als der
tüchtigste Charakter in Elsaß oder Lothringen, ein solches Volk ist noch weit
entfernt von politischer Mündigkeit und wird durch eine Menge peinlicher Er¬
scheinungen, durch freche Sittenlosigkeit, Servilität, Bestechlichkeit, Naubsucht
der Mächtigen, und auf der andern Seite durch geheime Verschwörungen und
phantastische sociale Systeme der Begehrenden noch lange aufgeregt werden und
den Frieden Europas stören. Es ist ungerecht, den Kaiser allein dafür verant¬
wortlich zu machen. Man denke an die letzten Regierungsjahre Louis Philipps, an
die damaligen Kammerintriguen, an die Processe Teste, Prasum und die
lauten Klagen über Corruption. man denke an die Zustände des Jahres 1850,
die Unsicherheit des Verkehrs, die Furcht der Besitzenden, die wilden Pläne
der Socialisten, und wie damals derselbe Napoleon, den jetzt die öffentliche
Meinung so laut verurtheilt, von einer großen Partei mit zu wenig Selbst¬
gefühl als Retter Europas begrüßt wurde. Freilich wer sich in solcher Weise
zum Herrn der Geschicke eines Volkes gemacht hat. wie der Kaiser, der ist
von der Mitwelt seit je auch für solche Uebel verantwortlich gemacht worden,
die er nicht selbst hervorgerufen hat. Und vieles Schwere bleibt übrig, was
dem Kaiser und seinem System zur Last fällt. Es ist wahr, er hat Frankreich


reichs und bei dem Vorzug eines festen Wollens die erste Stimme für sich in
Anspruch nimmt. Daß solche gemüthliche und persönliche Politik ihre großen
Bedenken hat, ist klar, daß sie die Ruhe Europas fortwährend bedrohen muß.
läßt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit schließen. Sämmtliche Großmächte
haben dringende Ursache, sich dagegen zu verwahren, daß der Kaiser, sobald
ihm das Verhältniß eines europäischen Staates zum andern nicht gefällt, so¬
fort diplomatische Verhandlungen darüber eröffnet, zuletzt eine Friedens- und
Kricgsfrage daraus herleitet.

Aber zu der Unruhe und Unsicherheit, welche in die Politik der europäi¬
schen Staaten durch seine Person gekommen ist. treten noch andere Bedenken.
Es ist dem Kaiser nicht gelungen, in Frankreich einen sichern Rechtszustand
herzustellen. Ob dies bei der gegenwärtigen Lage Frankreichs auch dem besten
Manne und dem reinsten Willen vollständig gelungen wäre, darf man be¬
zweifeln. Nicht weil die politischen Männer Frankreichs an sich schlechter waren,
als irgend wo anders, sondern weil das schöne Land und ein begabtes Volk
noch mitten in den Krisen einer großen Revolution liegen, weil alle Regie¬
rungen von den Bourbons an mit dem Makel eines unsichern Prätendenten,
thums behaftet waren, weil alle geistige und politische Selbstständigkeit des
Landes in der Tyrannei einer großen Stadt untergegangen ist. Ein Staat,
in welchem jeder Flurschütz eines Dorfes von Paris aus angestellt werden
muß, jede kleine Brücke des entferntesten Departements durch ein Decret der
höchsten Administrativbchörden reparirt wird, wo der kecke und grundsatzlose
Journalist der Hauptstadt eine hundertfach höhere Bedeutung hat, als der
tüchtigste Charakter in Elsaß oder Lothringen, ein solches Volk ist noch weit
entfernt von politischer Mündigkeit und wird durch eine Menge peinlicher Er¬
scheinungen, durch freche Sittenlosigkeit, Servilität, Bestechlichkeit, Naubsucht
der Mächtigen, und auf der andern Seite durch geheime Verschwörungen und
phantastische sociale Systeme der Begehrenden noch lange aufgeregt werden und
den Frieden Europas stören. Es ist ungerecht, den Kaiser allein dafür verant¬
wortlich zu machen. Man denke an die letzten Regierungsjahre Louis Philipps, an
die damaligen Kammerintriguen, an die Processe Teste, Prasum und die
lauten Klagen über Corruption. man denke an die Zustände des Jahres 1850,
die Unsicherheit des Verkehrs, die Furcht der Besitzenden, die wilden Pläne
der Socialisten, und wie damals derselbe Napoleon, den jetzt die öffentliche
Meinung so laut verurtheilt, von einer großen Partei mit zu wenig Selbst¬
gefühl als Retter Europas begrüßt wurde. Freilich wer sich in solcher Weise
zum Herrn der Geschicke eines Volkes gemacht hat. wie der Kaiser, der ist
von der Mitwelt seit je auch für solche Uebel verantwortlich gemacht worden,
die er nicht selbst hervorgerufen hat. Und vieles Schwere bleibt übrig, was
dem Kaiser und seinem System zur Last fällt. Es ist wahr, er hat Frankreich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/374>, abgerufen am 23.12.2024.