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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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Diese Nummer erreicht allerdings nicht manche übertriebene Vorstellung
von der Massenhaftigkeit der kriegsfertigen Waffenmacht Rußlands, bleibt
jedoch immerhin imponirend und bedenklich genug, wenn die Petersburger Po¬
litik sich veranlaßt sehen sollte, demonstrirend an den gegenwärtigen Verwick¬
lungen Theil zu nehmen. Dabei darf keineswegs außer Acht gelassen werden,
daß gegenwärtig jede russische Armee nur aus gedienten Leuten besteht, welche,
wenn sie auch nicht direct an den Gefechten und Schlachten des Krimkrieges
Theil genommen, doch den außergewöhnlichen Verhältnissen des Kriegslebens
nicht fremd sind und eine gewisse Uebung in Ueberwindung ihrer Mühselig¬
keiten und Strapazen mitbringen. Ferner sind, wie oben erwähnt, die leich¬
ten Truppengattungen der russischen Armee in ihrem Verhältniß zu den
schweren Waffen wesentlich vermehrt, und auch die verbesserten Handwaffen
und Geschosse sind bereits bei vielen Heeresabtheilungen im praktischen Ge¬
brauch. Mitten im Drange des Krieges, während der Belagerung von Se-
bastopol, begann man, von der Noth gezwungen, aus erbeuteter Munition zu
lernen und in dieser Richiung zu arbeiten. Im Sommer 1857 war zu prin¬
cipieller Weiterentwickelung dieser Verbesserung der tragbaren Feuerwaffen ein
Comite errichtet, welches die doppelte Aufgabe der Umarbeitung der vorhan¬
denen Gewehre und der Construction neuer Modelle sehr bald löste. Nach
wenigen Monaten sollen schon 250,000 glatte Gewehre mit Zügen versehen ge¬
wesen sein; bis zu Ende des Jahres 1858 sollen die Gewehrfabriken von
Tula, Seisterbek und Jscheff sogar ebenso viel neue Gewehre abgeliefert ha¬
ben. Die Annahme der Miniöpatrone erfolgte schon 1857 für die älteren
Gewehre großen Kalibers; später wurde dieselbe auch für Gewehre kleineren
Kalibers, namentlich für die Scharfschützen festgestellt. Für die specielle Aus¬
bildung der letzteren besteht in Zarskoeselo eine besondere Mustercompagnie
und die Offiziere alter Scharfschützen- und Schützenabtheilungen sind seitdem,
was früher fast ganz unbekannt war, überall zum Scheibenschießen comman-
dirt worden. Wie weit nun die Mannschaft der mit gezogenen Gewehren
ausgerüsteten Truppentheile mit der Handhabung und Verwerthung ihrer Waf¬
fen vertraut sind, wird freilich erst der Krieg zu erweisen haben. Denn außer
bei den finnischen Scharfschützenuud bei dem im Krimkrieg entstandenen kaiserlichen
(ursprünglich freiwilligen) Schützencorps gehen die Mannschaften nur sehr ein¬
zeln aus geübten Jägern hervor. Dagegen ist nach den Erfahrungen des
Knmkrieges und unter dem Einfluß der nachherigen Nesormarbeiten daran
nicht zu zweifeln, daß die russische Linieninfanterie und Artillerie in defensiver
Standhaftigkeit, festem Zusammenhalt und hartnäckigem Angriff keinem euro¬
päischen Heere nachsteht. Die Infanterie hat seit anderthalb Jahrhunderten
diesen Ruhm bewährt und ist ohne Frage die beste Waffe der gesammten
Heeresmacht. Auch die Artillerie vermag sich an Ausdauer mit allen europcn-


Diese Nummer erreicht allerdings nicht manche übertriebene Vorstellung
von der Massenhaftigkeit der kriegsfertigen Waffenmacht Rußlands, bleibt
jedoch immerhin imponirend und bedenklich genug, wenn die Petersburger Po¬
litik sich veranlaßt sehen sollte, demonstrirend an den gegenwärtigen Verwick¬
lungen Theil zu nehmen. Dabei darf keineswegs außer Acht gelassen werden,
daß gegenwärtig jede russische Armee nur aus gedienten Leuten besteht, welche,
wenn sie auch nicht direct an den Gefechten und Schlachten des Krimkrieges
Theil genommen, doch den außergewöhnlichen Verhältnissen des Kriegslebens
nicht fremd sind und eine gewisse Uebung in Ueberwindung ihrer Mühselig¬
keiten und Strapazen mitbringen. Ferner sind, wie oben erwähnt, die leich¬
ten Truppengattungen der russischen Armee in ihrem Verhältniß zu den
schweren Waffen wesentlich vermehrt, und auch die verbesserten Handwaffen
und Geschosse sind bereits bei vielen Heeresabtheilungen im praktischen Ge¬
brauch. Mitten im Drange des Krieges, während der Belagerung von Se-
bastopol, begann man, von der Noth gezwungen, aus erbeuteter Munition zu
lernen und in dieser Richiung zu arbeiten. Im Sommer 1857 war zu prin¬
cipieller Weiterentwickelung dieser Verbesserung der tragbaren Feuerwaffen ein
Comite errichtet, welches die doppelte Aufgabe der Umarbeitung der vorhan¬
denen Gewehre und der Construction neuer Modelle sehr bald löste. Nach
wenigen Monaten sollen schon 250,000 glatte Gewehre mit Zügen versehen ge¬
wesen sein; bis zu Ende des Jahres 1858 sollen die Gewehrfabriken von
Tula, Seisterbek und Jscheff sogar ebenso viel neue Gewehre abgeliefert ha¬
ben. Die Annahme der Miniöpatrone erfolgte schon 1857 für die älteren
Gewehre großen Kalibers; später wurde dieselbe auch für Gewehre kleineren
Kalibers, namentlich für die Scharfschützen festgestellt. Für die specielle Aus¬
bildung der letzteren besteht in Zarskoeselo eine besondere Mustercompagnie
und die Offiziere alter Scharfschützen- und Schützenabtheilungen sind seitdem,
was früher fast ganz unbekannt war, überall zum Scheibenschießen comman-
dirt worden. Wie weit nun die Mannschaft der mit gezogenen Gewehren
ausgerüsteten Truppentheile mit der Handhabung und Verwerthung ihrer Waf¬
fen vertraut sind, wird freilich erst der Krieg zu erweisen haben. Denn außer
bei den finnischen Scharfschützenuud bei dem im Krimkrieg entstandenen kaiserlichen
(ursprünglich freiwilligen) Schützencorps gehen die Mannschaften nur sehr ein¬
zeln aus geübten Jägern hervor. Dagegen ist nach den Erfahrungen des
Knmkrieges und unter dem Einfluß der nachherigen Nesormarbeiten daran
nicht zu zweifeln, daß die russische Linieninfanterie und Artillerie in defensiver
Standhaftigkeit, festem Zusammenhalt und hartnäckigem Angriff keinem euro¬
päischen Heere nachsteht. Die Infanterie hat seit anderthalb Jahrhunderten
diesen Ruhm bewährt und ist ohne Frage die beste Waffe der gesammten
Heeresmacht. Auch die Artillerie vermag sich an Ausdauer mit allen europcn-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/354>, abgerufen am 23.12.2024.