Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Nachahmung, die geistlose Regelmäßigkeit wieder aufbringen, welche einst die
Wiege unserer dramatischen Kunst schwer drückte. Doch wenn über unsere
tragischen Meisterstücke eine freiere Muse waltet, als über die französischen,
wenn in jenen ein reicheres, innigeres Leben wohnt als in diesen, so droht
dafür unserer theatralischen Kunst das entgegengesetzte Extrem der Formlosig¬
keit, durch welches sie endlich um den Namen einer Kunst zu kommen Gefahr
laufen könnte; und damit das: alunt' lo son Mtorv! nicht gar zu vielstimmig
bei uns erschallen möchte, konnte ein Eingeweihter es gerathen finden, solche
Theaterstücke wieder hervorzusuchen, die wenigstens dazu gemacht sind, die
Schwierigkeiten der Kunst zu bewähren. Dies wäre ungefähr in Prosa über¬
setzt, was uns Schiller in schönen Versen von Goethes Absicht gesagt hatte,
ehe noch seine Bearbeitung Voltairescher Stücke im Publicum erschienen war.
Nun sind sie da -- vergebens aber sucht man darin die "zum Lied sich er¬
hebende Sprache," das "Reich des Wohllauts und der Schöne," das "festliche
Gebiet, aus welchem der Natur nachlässig rohe Töne verbannt sind;" ver¬
gebens sucht man alles das, wovon Schiller uns gesagt hatte, daß darum
Goethe uns die Kunst des Franken wieder vor Augen brächte. Unpoetischer
wurde wol nie ein Poet übersetzt, als Voltaire von Goethe, und statt aller
andern Absichten, die diesem zugeschrieben worden sind, geräth man in Ver¬
suchung, ihm den göttlich erhabenen Zweck zuzutrauen, daß er durch die höl¬
zernste und farbloseste Sprache, deren er nur immer mächtig war,'Voltaire
heimgeben wollte, was dieser einst mit seinen sogenannten wörtlichen Ueber¬
setzungen an Shakespeare verbrochen hatte." Schlegel hatte behauptet, jedes
Dichterwerk müsse im Versmaß des Originals übersetzt werden; "zum Glück
besann er sich auf Goethes Mcchomet, und fügte hinzu, daß Goethe seine
Uebersetzung für eine Uebung der Schauspieler bestimmt habe. Wer nun das
weimarische Theater kennt, mag entscheiden, ob es auf demselben Schauspieler
von so schwerer Zunge gibt, daß ihnen solche Jamben etwa die nämlichen
Dienste leisten, welche dem Demosthenes die Steinchen leisteten, die er in
seiner Jugend bei dem Probiren seiner Reden in den Mund nahm." -- Das
ist wenigstens übertrieben und in einem höchst ungehörigen Ton gesagt. ^
Berühmter ist die Kritik der natürlichen Tochter (1804). -- "Wir unter¬
schreiben jedes Lob, das dem Genius gezollt worden ist, der sich hier wieder
in seiner eigenthümlichen Klarheit und Ruhe offenbart hat. Stolz darf die
Nation auf dieses Denkmal blicken, das den von ihr erreichten Grad poe¬
tischer Bildung auf das vollendetste darstellt. Stellt es aber, in all seiner
Schönheit, dennoch nicht auch die Erschöpfung und Erkaltung dar, die seit
einiger Zeit selbst an dem höchsten Schwung des deutschen Genius zu spüren
ist, und nicht ohne Grund besorgen läßt, daß der Kreislauf unseres pocti>chen
Vermögens zu schnell beschrieben worden sei, und sich nun, für den Augen-


Nachahmung, die geistlose Regelmäßigkeit wieder aufbringen, welche einst die
Wiege unserer dramatischen Kunst schwer drückte. Doch wenn über unsere
tragischen Meisterstücke eine freiere Muse waltet, als über die französischen,
wenn in jenen ein reicheres, innigeres Leben wohnt als in diesen, so droht
dafür unserer theatralischen Kunst das entgegengesetzte Extrem der Formlosig¬
keit, durch welches sie endlich um den Namen einer Kunst zu kommen Gefahr
laufen könnte; und damit das: alunt' lo son Mtorv! nicht gar zu vielstimmig
bei uns erschallen möchte, konnte ein Eingeweihter es gerathen finden, solche
Theaterstücke wieder hervorzusuchen, die wenigstens dazu gemacht sind, die
Schwierigkeiten der Kunst zu bewähren. Dies wäre ungefähr in Prosa über¬
setzt, was uns Schiller in schönen Versen von Goethes Absicht gesagt hatte,
ehe noch seine Bearbeitung Voltairescher Stücke im Publicum erschienen war.
Nun sind sie da — vergebens aber sucht man darin die „zum Lied sich er¬
hebende Sprache," das „Reich des Wohllauts und der Schöne," das „festliche
Gebiet, aus welchem der Natur nachlässig rohe Töne verbannt sind;" ver¬
gebens sucht man alles das, wovon Schiller uns gesagt hatte, daß darum
Goethe uns die Kunst des Franken wieder vor Augen brächte. Unpoetischer
wurde wol nie ein Poet übersetzt, als Voltaire von Goethe, und statt aller
andern Absichten, die diesem zugeschrieben worden sind, geräth man in Ver¬
suchung, ihm den göttlich erhabenen Zweck zuzutrauen, daß er durch die höl¬
zernste und farbloseste Sprache, deren er nur immer mächtig war,'Voltaire
heimgeben wollte, was dieser einst mit seinen sogenannten wörtlichen Ueber¬
setzungen an Shakespeare verbrochen hatte." Schlegel hatte behauptet, jedes
Dichterwerk müsse im Versmaß des Originals übersetzt werden; „zum Glück
besann er sich auf Goethes Mcchomet, und fügte hinzu, daß Goethe seine
Uebersetzung für eine Uebung der Schauspieler bestimmt habe. Wer nun das
weimarische Theater kennt, mag entscheiden, ob es auf demselben Schauspieler
von so schwerer Zunge gibt, daß ihnen solche Jamben etwa die nämlichen
Dienste leisten, welche dem Demosthenes die Steinchen leisteten, die er in
seiner Jugend bei dem Probiren seiner Reden in den Mund nahm." — Das
ist wenigstens übertrieben und in einem höchst ungehörigen Ton gesagt. ^
Berühmter ist die Kritik der natürlichen Tochter (1804). — „Wir unter¬
schreiben jedes Lob, das dem Genius gezollt worden ist, der sich hier wieder
in seiner eigenthümlichen Klarheit und Ruhe offenbart hat. Stolz darf die
Nation auf dieses Denkmal blicken, das den von ihr erreichten Grad poe¬
tischer Bildung auf das vollendetste darstellt. Stellt es aber, in all seiner
Schönheit, dennoch nicht auch die Erschöpfung und Erkaltung dar, die seit
einiger Zeit selbst an dem höchsten Schwung des deutschen Genius zu spüren
ist, und nicht ohne Grund besorgen läßt, daß der Kreislauf unseres pocti>chen
Vermögens zu schnell beschrieben worden sei, und sich nun, für den Augen-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0274" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/107321"/>
            <p xml:id="ID_787" prev="#ID_786" next="#ID_788"> Nachahmung, die geistlose Regelmäßigkeit wieder aufbringen, welche einst die<lb/>
Wiege unserer dramatischen Kunst schwer drückte. Doch wenn über unsere<lb/>
tragischen Meisterstücke eine freiere Muse waltet, als über die französischen,<lb/>
wenn in jenen ein reicheres, innigeres Leben wohnt als in diesen, so droht<lb/>
dafür unserer theatralischen Kunst das entgegengesetzte Extrem der Formlosig¬<lb/>
keit, durch welches sie endlich um den Namen einer Kunst zu kommen Gefahr<lb/>
laufen könnte; und damit das: alunt' lo son Mtorv! nicht gar zu vielstimmig<lb/>
bei uns erschallen möchte, konnte ein Eingeweihter es gerathen finden, solche<lb/>
Theaterstücke wieder hervorzusuchen, die wenigstens dazu gemacht sind, die<lb/>
Schwierigkeiten der Kunst zu bewähren. Dies wäre ungefähr in Prosa über¬<lb/>
setzt, was uns Schiller in schönen Versen von Goethes Absicht gesagt hatte,<lb/>
ehe noch seine Bearbeitung Voltairescher Stücke im Publicum erschienen war.<lb/>
Nun sind sie da &#x2014; vergebens aber sucht man darin die &#x201E;zum Lied sich er¬<lb/>
hebende Sprache," das &#x201E;Reich des Wohllauts und der Schöne," das &#x201E;festliche<lb/>
Gebiet, aus welchem der Natur nachlässig rohe Töne verbannt sind;" ver¬<lb/>
gebens sucht man alles das, wovon Schiller uns gesagt hatte, daß darum<lb/>
Goethe uns die Kunst des Franken wieder vor Augen brächte. Unpoetischer<lb/>
wurde wol nie ein Poet übersetzt, als Voltaire von Goethe, und statt aller<lb/>
andern Absichten, die diesem zugeschrieben worden sind, geräth man in Ver¬<lb/>
suchung, ihm den göttlich erhabenen Zweck zuzutrauen, daß er durch die höl¬<lb/>
zernste und farbloseste Sprache, deren er nur immer mächtig war,'Voltaire<lb/>
heimgeben wollte, was dieser einst mit seinen sogenannten wörtlichen Ueber¬<lb/>
setzungen an Shakespeare verbrochen hatte." Schlegel hatte behauptet, jedes<lb/>
Dichterwerk müsse im Versmaß des Originals übersetzt werden; &#x201E;zum Glück<lb/>
besann er sich auf Goethes Mcchomet, und fügte hinzu, daß Goethe seine<lb/>
Uebersetzung für eine Uebung der Schauspieler bestimmt habe. Wer nun das<lb/>
weimarische Theater kennt, mag entscheiden, ob es auf demselben Schauspieler<lb/>
von so schwerer Zunge gibt, daß ihnen solche Jamben etwa die nämlichen<lb/>
Dienste leisten, welche dem Demosthenes die Steinchen leisteten, die er in<lb/>
seiner Jugend bei dem Probiren seiner Reden in den Mund nahm." &#x2014; Das<lb/>
ist wenigstens übertrieben und in einem höchst ungehörigen Ton gesagt. ^<lb/>
Berühmter ist die Kritik der natürlichen Tochter (1804). &#x2014; &#x201E;Wir unter¬<lb/>
schreiben jedes Lob, das dem Genius gezollt worden ist, der sich hier wieder<lb/>
in seiner eigenthümlichen Klarheit und Ruhe offenbart hat. Stolz darf die<lb/>
Nation auf dieses Denkmal blicken, das den von ihr erreichten Grad poe¬<lb/>
tischer Bildung auf das vollendetste darstellt. Stellt es aber, in all seiner<lb/>
Schönheit, dennoch nicht auch die Erschöpfung und Erkaltung dar, die seit<lb/>
einiger Zeit selbst an dem höchsten Schwung des deutschen Genius zu spüren<lb/>
ist, und nicht ohne Grund besorgen läßt, daß der Kreislauf unseres pocti&gt;chen<lb/>
Vermögens zu schnell beschrieben worden sei, und sich nun, für den Augen-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0274] Nachahmung, die geistlose Regelmäßigkeit wieder aufbringen, welche einst die Wiege unserer dramatischen Kunst schwer drückte. Doch wenn über unsere tragischen Meisterstücke eine freiere Muse waltet, als über die französischen, wenn in jenen ein reicheres, innigeres Leben wohnt als in diesen, so droht dafür unserer theatralischen Kunst das entgegengesetzte Extrem der Formlosig¬ keit, durch welches sie endlich um den Namen einer Kunst zu kommen Gefahr laufen könnte; und damit das: alunt' lo son Mtorv! nicht gar zu vielstimmig bei uns erschallen möchte, konnte ein Eingeweihter es gerathen finden, solche Theaterstücke wieder hervorzusuchen, die wenigstens dazu gemacht sind, die Schwierigkeiten der Kunst zu bewähren. Dies wäre ungefähr in Prosa über¬ setzt, was uns Schiller in schönen Versen von Goethes Absicht gesagt hatte, ehe noch seine Bearbeitung Voltairescher Stücke im Publicum erschienen war. Nun sind sie da — vergebens aber sucht man darin die „zum Lied sich er¬ hebende Sprache," das „Reich des Wohllauts und der Schöne," das „festliche Gebiet, aus welchem der Natur nachlässig rohe Töne verbannt sind;" ver¬ gebens sucht man alles das, wovon Schiller uns gesagt hatte, daß darum Goethe uns die Kunst des Franken wieder vor Augen brächte. Unpoetischer wurde wol nie ein Poet übersetzt, als Voltaire von Goethe, und statt aller andern Absichten, die diesem zugeschrieben worden sind, geräth man in Ver¬ suchung, ihm den göttlich erhabenen Zweck zuzutrauen, daß er durch die höl¬ zernste und farbloseste Sprache, deren er nur immer mächtig war,'Voltaire heimgeben wollte, was dieser einst mit seinen sogenannten wörtlichen Ueber¬ setzungen an Shakespeare verbrochen hatte." Schlegel hatte behauptet, jedes Dichterwerk müsse im Versmaß des Originals übersetzt werden; „zum Glück besann er sich auf Goethes Mcchomet, und fügte hinzu, daß Goethe seine Uebersetzung für eine Uebung der Schauspieler bestimmt habe. Wer nun das weimarische Theater kennt, mag entscheiden, ob es auf demselben Schauspieler von so schwerer Zunge gibt, daß ihnen solche Jamben etwa die nämlichen Dienste leisten, welche dem Demosthenes die Steinchen leisteten, die er in seiner Jugend bei dem Probiren seiner Reden in den Mund nahm." — Das ist wenigstens übertrieben und in einem höchst ungehörigen Ton gesagt. ^ Berühmter ist die Kritik der natürlichen Tochter (1804). — „Wir unter¬ schreiben jedes Lob, das dem Genius gezollt worden ist, der sich hier wieder in seiner eigenthümlichen Klarheit und Ruhe offenbart hat. Stolz darf die Nation auf dieses Denkmal blicken, das den von ihr erreichten Grad poe¬ tischer Bildung auf das vollendetste darstellt. Stellt es aber, in all seiner Schönheit, dennoch nicht auch die Erschöpfung und Erkaltung dar, die seit einiger Zeit selbst an dem höchsten Schwung des deutschen Genius zu spüren ist, und nicht ohne Grund besorgen läßt, daß der Kreislauf unseres pocti>chen Vermögens zu schnell beschrieben worden sei, und sich nun, für den Augen-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/274
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/274>, abgerufen am 23.12.2024.