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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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zu inspiriren vermochte, in Verbindung mit allen Raffinements der blutdürstigste
Grausamkeit, die jemals in einer Folterkammer erfunden und ausgeübt werden
konnten, und man wird ein schwaches Bild von Justine haben." "Alle plump
schmutzigen Ausdrücke sind sorgfältig vermieden und umschrieben; eine kurze Vor¬
rede, eine Zueignung 5l irn dounL amis krönt das namenlose Verbrechen, dies
Buch geschrieben zu haben, durch die ironische Aufstellung eines sentimenta-
lisch-moralischen Zweckes." "Und Justine ist in Frankreich verschlungen wor¬
den, und hat den entschiedensten, durch viele Auflagen erwiesenen Erfolg ge¬
habt. Diese Umstände zwingen den Gedanken wieder auf, den man. sich
gern verhehlen wollte, den trostlosen Gedanken, daß der Stoff zu den abscheu¬
lichen Ideen und Gemälden dieser Bücher mehr noch in der Nation und im
Zeitalter als in der Phantasie ihres Verfassers vorhanden war. Diese Um¬
stände bewähren die schwere Schuld der alten Verfassung, aber indem sie zu¬
gleich an der Revolution, welche aus der Auflösung jener Maschine entsprang,
verzweifeln machen." "Man nehme die äußerste Verderbniß der Sitten, die
letzte Entartung der Sinnlichkeit, die, mit höchster Verkehrtheit des Kopfes ver¬
bunden, das Kühne. Fürchterliche, Unerhörte in der moralischen und physischen
Welt zugleich als willkommenen Reiz empfängt; man nehme eine große po¬
litische Revolution, die großenteils durch die Allgemeinheit jenes Zustandes
entstanden, die Bande der Furcht, des Strebens nach Sicherheit, welche die
Gesellschaft zusammenhalten, zerreißt, den Eigennutz vereinzelt, aus den con-
ventionellen Schranken, in die er sich selbst gebannt hatte, herauswirft, und
wild und grenzenlos herumzuschweifen nöthigt; mau nehme die Grausamkeit
im Gefolge des Fanatismus mehrer streitenden Parteien; man nehme in den
höhern Standen die ausschweifende Wuth der im gewöhnlichen Kreis der
Wollust erschöpften Sinnlichkeit, die ebenfalls unaufhaltsame Thätigkeit eines
cultivirten Verstandes bei einem verderbten Herzen; die Nothwendigkeit des
Mordes zur Wiederherstellung ihres gestürzten Ansehns; man nehme in den
untern Classen bei brutalen Kräften, die aufgeregte Sehnsucht nach eben solchen
Gelüsten, eben solchen Lastern und Verbrechen, zu denen vorher nur Rang und
Geburt berechtigten: dann ist die Erscheinung, die Aufnahme und der Einfluß
solcher Bücher in dem revolutionären Frankreich kein unerklärliches Phänomen
mehr." "Welchen Eindruck machen sie nun bei den mittlern Classen, die halb
wider Willen in den Strudel der Revolution hineingerissen wurden? In jenen
Schriften fanden sie zum Theil Ideen wieder, die bei der guten Gesellschaft
gäng und gäbe gewesen waren, und in anerkannten Zusammenhang mit dem
Ausbruch der Revolution gestanden hatten. Aber sie fanden sie mit allen
Consequenzen wieder, welche dem dogmatisirenden Unglauben zu Gebot stehn,
wenn es ihm beliebt, das bausüllige Gerüst der gewöhnlichen Moralsysteme zu
brechen; und zugleich sahen sie diese Consequenzen durch den Fortgang der


zu inspiriren vermochte, in Verbindung mit allen Raffinements der blutdürstigste
Grausamkeit, die jemals in einer Folterkammer erfunden und ausgeübt werden
konnten, und man wird ein schwaches Bild von Justine haben." „Alle plump
schmutzigen Ausdrücke sind sorgfältig vermieden und umschrieben; eine kurze Vor¬
rede, eine Zueignung 5l irn dounL amis krönt das namenlose Verbrechen, dies
Buch geschrieben zu haben, durch die ironische Aufstellung eines sentimenta-
lisch-moralischen Zweckes." „Und Justine ist in Frankreich verschlungen wor¬
den, und hat den entschiedensten, durch viele Auflagen erwiesenen Erfolg ge¬
habt. Diese Umstände zwingen den Gedanken wieder auf, den man. sich
gern verhehlen wollte, den trostlosen Gedanken, daß der Stoff zu den abscheu¬
lichen Ideen und Gemälden dieser Bücher mehr noch in der Nation und im
Zeitalter als in der Phantasie ihres Verfassers vorhanden war. Diese Um¬
stände bewähren die schwere Schuld der alten Verfassung, aber indem sie zu¬
gleich an der Revolution, welche aus der Auflösung jener Maschine entsprang,
verzweifeln machen." „Man nehme die äußerste Verderbniß der Sitten, die
letzte Entartung der Sinnlichkeit, die, mit höchster Verkehrtheit des Kopfes ver¬
bunden, das Kühne. Fürchterliche, Unerhörte in der moralischen und physischen
Welt zugleich als willkommenen Reiz empfängt; man nehme eine große po¬
litische Revolution, die großenteils durch die Allgemeinheit jenes Zustandes
entstanden, die Bande der Furcht, des Strebens nach Sicherheit, welche die
Gesellschaft zusammenhalten, zerreißt, den Eigennutz vereinzelt, aus den con-
ventionellen Schranken, in die er sich selbst gebannt hatte, herauswirft, und
wild und grenzenlos herumzuschweifen nöthigt; mau nehme die Grausamkeit
im Gefolge des Fanatismus mehrer streitenden Parteien; man nehme in den
höhern Standen die ausschweifende Wuth der im gewöhnlichen Kreis der
Wollust erschöpften Sinnlichkeit, die ebenfalls unaufhaltsame Thätigkeit eines
cultivirten Verstandes bei einem verderbten Herzen; die Nothwendigkeit des
Mordes zur Wiederherstellung ihres gestürzten Ansehns; man nehme in den
untern Classen bei brutalen Kräften, die aufgeregte Sehnsucht nach eben solchen
Gelüsten, eben solchen Lastern und Verbrechen, zu denen vorher nur Rang und
Geburt berechtigten: dann ist die Erscheinung, die Aufnahme und der Einfluß
solcher Bücher in dem revolutionären Frankreich kein unerklärliches Phänomen
mehr." „Welchen Eindruck machen sie nun bei den mittlern Classen, die halb
wider Willen in den Strudel der Revolution hineingerissen wurden? In jenen
Schriften fanden sie zum Theil Ideen wieder, die bei der guten Gesellschaft
gäng und gäbe gewesen waren, und in anerkannten Zusammenhang mit dem
Ausbruch der Revolution gestanden hatten. Aber sie fanden sie mit allen
Consequenzen wieder, welche dem dogmatisirenden Unglauben zu Gebot stehn,
wenn es ihm beliebt, das bausüllige Gerüst der gewöhnlichen Moralsysteme zu
brechen; und zugleich sahen sie diese Consequenzen durch den Fortgang der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/270>, abgerufen am 23.12.2024.