Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.nie wetteifern, den nächsten Uebergang der Natur in die Kunst zu treffen, nie wetteifern, den nächsten Uebergang der Natur in die Kunst zu treffen, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0226" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/107273"/> <p xml:id="ID_649" prev="#ID_648" next="#ID_650"> nie wetteifern, den nächsten Uebergang der Natur in die Kunst zu treffen,<lb/> die Schönheit in der Eigenthümlichkeit jedes Gegenstandes, dein sie angehört,<lb/> darzustellen, unvermischt und unabhängig van jedem Medium, nußer der<lb/> Gabe, sie zu erkennen und zu empfangen; da verliert sich die Kälte der Kritik<lb/> in Begeisterung, da gilt von solchen Kunstwerken der muhamedanische Glaube<lb/> vom Koran, daß er von Ewigkeit her existire; da ist kein Machwerk, keine<lb/> Fuge aufzuspüren; da sind die Muster aufgestellt, in welchen jeder kunstfähige<lb/> Geist die Regel lebendig und dem innern Sinn anschaulich zu erkennen hat."<lb/> „So frei von aller eignen Manier, die immer, wie schön sie auch sei. dem<lb/> dargestellten Gegenstand geliehene Individualität des Darstellers bleibt, ist<lb/> nie ein Dichter gewesen als Goethe, oder vielmehr, die Individualität, die<lb/> man in seinen Werken wahrnimmt, ist nichts Anderes als eine fast über die<lb/> Aufschlüsse der Psychologie erhabene Gabe, sein ganzes Wesen, wie ein Pro-<lb/> teus, aber ohne Spuren von Anstrengung oder Gewaltsamkeit, nach dem<lb/> Erfordernis; jedes Gegenstandes umzuformen, jedes Ganze, das seine Phan¬<lb/> tasie auffaßt, nie anders als in dessen eignem und vollem Licht zu schauen<lb/> und darzustellen . . . Damit ist sehr genau verbunden, daß ungeachtet der<lb/> vielen einzeln schönen, sinnreichen und kräftigen Gedanken, es keinen Dichter<lb/> gibt, in welchem man so wenig „Stellen" ausfindig, machen könnte . . -<lb/> Darum ist die Haltung in seinen Compositionen zu einfach, das Licht zu hell<lb/> für manche Schönheiten, manche außerordentliche Züge, manche kühne sali-<lb/> um der Phantasie, die uns in andern Dichtern beschäftigen, aufregen und<lb/> hinreißen können, deren relative Unmöglichkeit aber grade die Vollkommenheit<lb/> eines Dichters ausmacht, in welchem alles, Charaktere, Situationen und<lb/> Details, nur zu einem schönen und innigen Eindruck harmonirt." — Als<lb/> höchstes Ideal wird neben den Gedichten (namentlich der „Zueignung") Iphi-<lb/> genie charakterisirt; von Tasso heißt es: „Die Charaktere und die Situationen<lb/> behalten, unter dem zarten Hauch eines miniaturähnlichen Colorits, eine ge¬<lb/> wisse Unbestimmtheit, die den Eindruck des Ganzen kaum wohlthätig macht,<lb/> und sie sind in der innigen und seelenvollen Behandlung, die Goethe eigen ist,<lb/> ungefähr ebenso auf eine Nadelspitze gestellt, wie manche Charaktere und Situa¬<lb/> tionen in Lessings subtiler und sinnreicher Manier." — In richtigem Contrast<lb/> gegen diesen begeisterten Ton wird das Schädliche und Stümperhafte mit<lb/> kalter Verachtung besprochen. „An Kotzebues Werken," sagt er bereits 1793,<lb/> also lange vor Schlegel, in der L. Z.. „hat die Kritik Gelegenheit zu prüfen,<lb/> was es ist, das in denselben so viel gefallene Mädchen und Weiber, unschul¬<lb/> dige Verführer und Verführte, gegen die Convenienzen zu Felde ziehende<lb/> Helden u. f. w. zur süßesten Ergötzlichkeit unsers großen Hansens zusammen¬<lb/> bringt. Der dünne Firniß moralischer Sentenzen und nothdürstiger Gemein¬<lb/> sprüche von Empfindung und Tugend kann diese Richten» am wenigsten be-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0226]
nie wetteifern, den nächsten Uebergang der Natur in die Kunst zu treffen,
die Schönheit in der Eigenthümlichkeit jedes Gegenstandes, dein sie angehört,
darzustellen, unvermischt und unabhängig van jedem Medium, nußer der
Gabe, sie zu erkennen und zu empfangen; da verliert sich die Kälte der Kritik
in Begeisterung, da gilt von solchen Kunstwerken der muhamedanische Glaube
vom Koran, daß er von Ewigkeit her existire; da ist kein Machwerk, keine
Fuge aufzuspüren; da sind die Muster aufgestellt, in welchen jeder kunstfähige
Geist die Regel lebendig und dem innern Sinn anschaulich zu erkennen hat."
„So frei von aller eignen Manier, die immer, wie schön sie auch sei. dem
dargestellten Gegenstand geliehene Individualität des Darstellers bleibt, ist
nie ein Dichter gewesen als Goethe, oder vielmehr, die Individualität, die
man in seinen Werken wahrnimmt, ist nichts Anderes als eine fast über die
Aufschlüsse der Psychologie erhabene Gabe, sein ganzes Wesen, wie ein Pro-
teus, aber ohne Spuren von Anstrengung oder Gewaltsamkeit, nach dem
Erfordernis; jedes Gegenstandes umzuformen, jedes Ganze, das seine Phan¬
tasie auffaßt, nie anders als in dessen eignem und vollem Licht zu schauen
und darzustellen . . . Damit ist sehr genau verbunden, daß ungeachtet der
vielen einzeln schönen, sinnreichen und kräftigen Gedanken, es keinen Dichter
gibt, in welchem man so wenig „Stellen" ausfindig, machen könnte . . -
Darum ist die Haltung in seinen Compositionen zu einfach, das Licht zu hell
für manche Schönheiten, manche außerordentliche Züge, manche kühne sali-
um der Phantasie, die uns in andern Dichtern beschäftigen, aufregen und
hinreißen können, deren relative Unmöglichkeit aber grade die Vollkommenheit
eines Dichters ausmacht, in welchem alles, Charaktere, Situationen und
Details, nur zu einem schönen und innigen Eindruck harmonirt." — Als
höchstes Ideal wird neben den Gedichten (namentlich der „Zueignung") Iphi-
genie charakterisirt; von Tasso heißt es: „Die Charaktere und die Situationen
behalten, unter dem zarten Hauch eines miniaturähnlichen Colorits, eine ge¬
wisse Unbestimmtheit, die den Eindruck des Ganzen kaum wohlthätig macht,
und sie sind in der innigen und seelenvollen Behandlung, die Goethe eigen ist,
ungefähr ebenso auf eine Nadelspitze gestellt, wie manche Charaktere und Situa¬
tionen in Lessings subtiler und sinnreicher Manier." — In richtigem Contrast
gegen diesen begeisterten Ton wird das Schädliche und Stümperhafte mit
kalter Verachtung besprochen. „An Kotzebues Werken," sagt er bereits 1793,
also lange vor Schlegel, in der L. Z.. „hat die Kritik Gelegenheit zu prüfen,
was es ist, das in denselben so viel gefallene Mädchen und Weiber, unschul¬
dige Verführer und Verführte, gegen die Convenienzen zu Felde ziehende
Helden u. f. w. zur süßesten Ergötzlichkeit unsers großen Hansens zusammen¬
bringt. Der dünne Firniß moralischer Sentenzen und nothdürstiger Gemein¬
sprüche von Empfindung und Tugend kann diese Richten» am wenigsten be-
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