Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.Ueberzeugung von der Einheit der Komposition, von der tiefen Wechselwirkung Man kann dasselbe zwar keiner der bestehenden Facultäten einordnen, Ueberzeugung von der Einheit der Komposition, von der tiefen Wechselwirkung Man kann dasselbe zwar keiner der bestehenden Facultäten einordnen, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0077" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/265886"/> <p xml:id="ID_171" prev="#ID_170"> Ueberzeugung von der Einheit der Komposition, von der tiefen Wechselwirkung<lb/> der beiden Handlungen. Das ist es eben, was wir an diesem Meisterwerke<lb/> so hoch preisen, daß Schwind niemals seine Kraft mißbraucht, seine besonde¬<lb/> ren Vorzüge nicht auf Kosten der Wahrheit voranstellt, die Einfachheit in Ge¬<lb/> danken und Formen nicht verschmäht. Es folgt das Vehmgericht. der rüh¬<lb/> rende Abschied vom Geliebten und die Vorbereitung zum Tode. Bei aller<lb/> Sympathie für die verfolgte Unschuld wird man die Gestalt des dicken Kerker¬<lb/> meisters nicht ohne Befriedigung betrachten können. Nur eine einzige Stunde<lb/> fehlt noch, um die sieben Jahre voll zu machen und die verzauberten Brüder<lb/> zu befreien. Die Fee mi,t dem Stundenglase erscheint in den Lüften und spricht<lb/> der Bedrängten Muth zu. Eine gute Hilfe leisten nun aber die Bettler, die<lb/> ihre Wohlthäterin nicht verlassen mögen. die Kcrkcrthür stürmen und dem<lb/> Vollzuge der Hinrichtung ein mächtiges Hinderniß entgegensetzen. Es sind die¬<lb/> selben Gestalten und Köpfe, die wir schon auf. dem siebenten Bilde erblickten,<lb/> aber das Abstoßende und Unheimliche ist dennoch verschwunden, die Dankbar¬<lb/> keit hat die Züge verklärt, die Hoffnung, retten zu können. Hunger und Elend<lb/> und Siechthum vergessen lassen. Dank dieser Verzögerung verrinnt die letzte<lb/> Prüfungsstunde, die Raben werden mit den von der getreuen Schwester ge¬<lb/> sponnenen Hemden bekleidet, entzaubert und eilen nun auf milchweißen Rolfen,<lb/> von der Fee. einer wunderbar mächtigen, stolzschöncn Gestalt geführt, herbei,<lb/> um die Schwester vom Brandpsahle loszuhauen. Das sturmgleiche Heran-<lb/> brausen der Brüder, der Liebesschmerz des Königssohnes, der am Fuß des<lb/> Scheiterhaufens in sich verloren kniet und wenn auch nur vom Rücken ge¬<lb/> sehen, dennoch eine der sprechendsten Gestalten bildet, der Volksjubel über die<lb/> Befreiung, die komische Hast der flüchtenden Henker, all das Wogen und<lb/> Drängen, der plötzliche Wechsel in den Empfindungen sind trefflich wiederge¬<lb/> geben und stempeln dieses Bild zum würdigen Schlußsteine des ganzen<lb/> Werkes.</p><lb/> <p xml:id="ID_172" next="#ID_173"> Man kann dasselbe zwar keiner der bestehenden Facultäten einordnen,<lb/> es zeigt weder anatomische Kenntnisse.'noch philosophische Gelehrsamkeit, noch<lb/> theologische Mystik. Dafür wird es von jener Weisheit getragen, die das<lb/> einfach kindliche Gemüth, wie die gereiste Lebenserfahrung gleichmäßig erfreut.<lb/> Kein reicher Verstand spricht aus demselben, desto reiner waltet in ihm die<lb/> "aive Phantasie; keine glänzenden Phrasen schmücken dasselbe, dagegen besitzt<lb/> ^ den Reiz inniger Poesie und eines freudigen frischen Sinnes für die leben¬<lb/> dige Realität, die wir beinahe schon verloren wähnten. Mit einem Worte,<lb/> Schwind hat uns mit einem Kunstwerk beschenkt, das uns in die besten<lb/> Zeiten der, Vergangenheit zurückversetzt, und besser als alle andern berühmten<lb/> Schöpfungen unsrer Tage die Eigenthümlichkeit und Stärke des deutschen<lb/> Kunstgeistes offenbart. Der Jubel, den es in allen Beschauern hervorruft,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0077]
Ueberzeugung von der Einheit der Komposition, von der tiefen Wechselwirkung
der beiden Handlungen. Das ist es eben, was wir an diesem Meisterwerke
so hoch preisen, daß Schwind niemals seine Kraft mißbraucht, seine besonde¬
ren Vorzüge nicht auf Kosten der Wahrheit voranstellt, die Einfachheit in Ge¬
danken und Formen nicht verschmäht. Es folgt das Vehmgericht. der rüh¬
rende Abschied vom Geliebten und die Vorbereitung zum Tode. Bei aller
Sympathie für die verfolgte Unschuld wird man die Gestalt des dicken Kerker¬
meisters nicht ohne Befriedigung betrachten können. Nur eine einzige Stunde
fehlt noch, um die sieben Jahre voll zu machen und die verzauberten Brüder
zu befreien. Die Fee mi,t dem Stundenglase erscheint in den Lüften und spricht
der Bedrängten Muth zu. Eine gute Hilfe leisten nun aber die Bettler, die
ihre Wohlthäterin nicht verlassen mögen. die Kcrkcrthür stürmen und dem
Vollzuge der Hinrichtung ein mächtiges Hinderniß entgegensetzen. Es sind die¬
selben Gestalten und Köpfe, die wir schon auf. dem siebenten Bilde erblickten,
aber das Abstoßende und Unheimliche ist dennoch verschwunden, die Dankbar¬
keit hat die Züge verklärt, die Hoffnung, retten zu können. Hunger und Elend
und Siechthum vergessen lassen. Dank dieser Verzögerung verrinnt die letzte
Prüfungsstunde, die Raben werden mit den von der getreuen Schwester ge¬
sponnenen Hemden bekleidet, entzaubert und eilen nun auf milchweißen Rolfen,
von der Fee. einer wunderbar mächtigen, stolzschöncn Gestalt geführt, herbei,
um die Schwester vom Brandpsahle loszuhauen. Das sturmgleiche Heran-
brausen der Brüder, der Liebesschmerz des Königssohnes, der am Fuß des
Scheiterhaufens in sich verloren kniet und wenn auch nur vom Rücken ge¬
sehen, dennoch eine der sprechendsten Gestalten bildet, der Volksjubel über die
Befreiung, die komische Hast der flüchtenden Henker, all das Wogen und
Drängen, der plötzliche Wechsel in den Empfindungen sind trefflich wiederge¬
geben und stempeln dieses Bild zum würdigen Schlußsteine des ganzen
Werkes.
Man kann dasselbe zwar keiner der bestehenden Facultäten einordnen,
es zeigt weder anatomische Kenntnisse.'noch philosophische Gelehrsamkeit, noch
theologische Mystik. Dafür wird es von jener Weisheit getragen, die das
einfach kindliche Gemüth, wie die gereiste Lebenserfahrung gleichmäßig erfreut.
Kein reicher Verstand spricht aus demselben, desto reiner waltet in ihm die
"aive Phantasie; keine glänzenden Phrasen schmücken dasselbe, dagegen besitzt
^ den Reiz inniger Poesie und eines freudigen frischen Sinnes für die leben¬
dige Realität, die wir beinahe schon verloren wähnten. Mit einem Worte,
Schwind hat uns mit einem Kunstwerk beschenkt, das uns in die besten
Zeiten der, Vergangenheit zurückversetzt, und besser als alle andern berühmten
Schöpfungen unsrer Tage die Eigenthümlichkeit und Stärke des deutschen
Kunstgeistes offenbart. Der Jubel, den es in allen Beschauern hervorruft,
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