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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Physiognomien, seiner schülerhaften Zeichnung, seinen allgemeinen Blondinen
und Brünetten, seinen hier mit rothem Bart, dort mit schwarzem Bart mas-
kirten Modellen erregt gegenwärtig nur Lachen. Sage man ja nicht, die Werth¬
schätzung solcher historischer Gemälde hänge von der Mode ab und was wir heute
über Schorn stellen, werde morgen ebenso verspottet werden. Die neueren Bilder
sind nicht blos Mders, sondern wesentlich besser als ihre Vorgänger. Die
Auffassung ist ernster und wahrer, die Charakteristik lebendiger und eingehender,
die Phrase, die abstracten allgemeinen Kopfe, die bloßen Costümsigurcn min¬
der vorherrschend geworden. Die Gruppe des Blinden.und der auf den
Treppensteig Flüchtenden in dein Bilde von Dietz. das lebendige Getümmel
der aufwärts ziehenden französischen Scharen, einzelne Köpfe (freilich nur von
Nebenfiguren) auf Pilotys Gemälde sind nicht blos relativ gut, sondern an
und für sich vortrefflich. Könnten diese Männer sich von dem Aberglauben frei
machen, jedes Kunstwerk verlange stilistische Einschiebsel und blos raumaus-
süllende Figuren, könnten sie die Chorknaben, die Pagen und Knappen, die
nichts thun als langweilig dareinschauen. und den besten Raum wegnehmen,
aus ihrer Phantasie verbannen, hätten sie keine lächerliche Furcht vor naivem,
lebendigem Erfassen der Situation, vor dramatischer Concentration der Hand¬
lung, der Fortschritt wäre noch größer, die Freude und der Genuß des un¬
befangenen Beschauers noch rückhaltloser. Jedenfalls, wenn man das Schick¬
sal des Idealismus seit Carstens und die Fortschritte des Realismus seit
zwanzig Jahren zusammenhält, kann man gar nicht zweifelhaft sein, für welche
Richtung die Götter streiten, wo allein der energische, stetige Fortschritt sich
kundgibt, und wo eine lebendige, ernste und energische Entwicklung mit Be¬
stimmtheit erwartet werden kann.

Wollte man in einer Art Tribuna die Perlen der Ausstellung vereinigen,
und unter Kunstkennern wie im übrigen Publicum die Stimmen sammeln,
um zu erfahren, welchen Werken die allgemeine Meinung den Preis der Voll¬
endung zugesteht, so würden über gar manche Bilder die Meinungen schroff
auseinandergehen. An Gustav Richters Auferweckung von Jairus Töchter¬
lein, z. B. preisen bekanntlich die Einen die Humanisirung der religiösen
Geschichte; der Ausdruck unendlicher Liebe und wahrhaft göttlichen Erbarmens
im Christuskopfe, die jeden äußern Gegenstand durchdringen, zu sich emporziehen
und mit dem eignen Leben verschmelzen, dünkt ihnen musterhaft für die künst¬
lerische Behandlung des an sich spröden und unsinnlichen Motives, die Andern
jucken mitleidig die Achseln über den "Magnetiseur". zu dem Christi Gestalt
herabgewürdigt wurde, und meinen, der auf theologischen Gebiet längst be¬
ugte Rationalismus habe Zeit und Mittel schlecht gewählt, um sich in die
Kunst einzunisten. Die hier wahrgenommene Auffassung biblischer Scenen
kann zwar nicht den Ruhm unbedingter Neuheit für sich in Anspruch nehmen,


Grenzboten IV. 135S. 9

Physiognomien, seiner schülerhaften Zeichnung, seinen allgemeinen Blondinen
und Brünetten, seinen hier mit rothem Bart, dort mit schwarzem Bart mas-
kirten Modellen erregt gegenwärtig nur Lachen. Sage man ja nicht, die Werth¬
schätzung solcher historischer Gemälde hänge von der Mode ab und was wir heute
über Schorn stellen, werde morgen ebenso verspottet werden. Die neueren Bilder
sind nicht blos Mders, sondern wesentlich besser als ihre Vorgänger. Die
Auffassung ist ernster und wahrer, die Charakteristik lebendiger und eingehender,
die Phrase, die abstracten allgemeinen Kopfe, die bloßen Costümsigurcn min¬
der vorherrschend geworden. Die Gruppe des Blinden.und der auf den
Treppensteig Flüchtenden in dein Bilde von Dietz. das lebendige Getümmel
der aufwärts ziehenden französischen Scharen, einzelne Köpfe (freilich nur von
Nebenfiguren) auf Pilotys Gemälde sind nicht blos relativ gut, sondern an
und für sich vortrefflich. Könnten diese Männer sich von dem Aberglauben frei
machen, jedes Kunstwerk verlange stilistische Einschiebsel und blos raumaus-
süllende Figuren, könnten sie die Chorknaben, die Pagen und Knappen, die
nichts thun als langweilig dareinschauen. und den besten Raum wegnehmen,
aus ihrer Phantasie verbannen, hätten sie keine lächerliche Furcht vor naivem,
lebendigem Erfassen der Situation, vor dramatischer Concentration der Hand¬
lung, der Fortschritt wäre noch größer, die Freude und der Genuß des un¬
befangenen Beschauers noch rückhaltloser. Jedenfalls, wenn man das Schick¬
sal des Idealismus seit Carstens und die Fortschritte des Realismus seit
zwanzig Jahren zusammenhält, kann man gar nicht zweifelhaft sein, für welche
Richtung die Götter streiten, wo allein der energische, stetige Fortschritt sich
kundgibt, und wo eine lebendige, ernste und energische Entwicklung mit Be¬
stimmtheit erwartet werden kann.

Wollte man in einer Art Tribuna die Perlen der Ausstellung vereinigen,
und unter Kunstkennern wie im übrigen Publicum die Stimmen sammeln,
um zu erfahren, welchen Werken die allgemeine Meinung den Preis der Voll¬
endung zugesteht, so würden über gar manche Bilder die Meinungen schroff
auseinandergehen. An Gustav Richters Auferweckung von Jairus Töchter¬
lein, z. B. preisen bekanntlich die Einen die Humanisirung der religiösen
Geschichte; der Ausdruck unendlicher Liebe und wahrhaft göttlichen Erbarmens
im Christuskopfe, die jeden äußern Gegenstand durchdringen, zu sich emporziehen
und mit dem eignen Leben verschmelzen, dünkt ihnen musterhaft für die künst¬
lerische Behandlung des an sich spröden und unsinnlichen Motives, die Andern
jucken mitleidig die Achseln über den „Magnetiseur". zu dem Christi Gestalt
herabgewürdigt wurde, und meinen, der auf theologischen Gebiet längst be¬
ugte Rationalismus habe Zeit und Mittel schlecht gewählt, um sich in die
Kunst einzunisten. Die hier wahrgenommene Auffassung biblischer Scenen
kann zwar nicht den Ruhm unbedingter Neuheit für sich in Anspruch nehmen,


Grenzboten IV. 135S. 9
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/73>, abgerufen am 06.02.2025.