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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Weile kein Wort richtig aussprechen und nichts deutlich beantworten konnte.
Endlich, da die Herrn Commissarien beständig darauf drangen, ob er des Kna¬
ben Leib kenne, gab er mit geneigtem Kopf und schwacher Stimme zur Ant¬
wort, es sei der Leib seines Sohnes Simon und als man ihm serner zusetzte,
woher die Wunde am linken Schlaf herrühre, gab er verwirrte und wider¬
sprechende Antworten. So wurde er wieder in das Gefängniß geführt, der
Körper des Knaben aber von dem jüdischen Leichenbret in einen christlichen
Sarg gelegt und unterdeß in den tiefen Nathhauskeller gestellt. Die Herrn
Commissarien begannen unermüdlich Christen und Juden auszufragen. Ungeachtet
aller Jndicicn aber blieb Lazarus und die in besonderem Gewahrsam gefan¬
genen Frauen, Lia, sein Eheweib und Heimele, seine Köchin fast einstimmig
auf derselben Aussage: Simon habe nie dieFlucht aus dem väterlichen Hause
genommen, um ein Christ zu wer'den, sondern sei lange Zeit mit der Kops-
krütze behaftet gewesen und deshalb zu Hause gehalten worden, zuletzt habe
er heftigen Widerwillen vor Speise bekommen, sei in gewaltthätiger Tobsucht
gestürzet und habe sich zu Tode gefallen. Alle Mittel die Wahrheit zu erfor¬
schen, halsen nicht, Lazarus Abeles und die beiden einzigen Zeugen, welche
man damals kannte, blieben halsstarrig.

In Gedanken darüber ging der wohlgeborene Franz Maximilian Frci-
her von Klarstein, bestellter Commissarius, eines Mittags heim und schritt die
Treppe in seinem Hause hinauf; da kam ihm plötzlich vor, als würde er hef¬
tig an die Seite gestoßen, er wandte sich verdrießlich um, stehe, da kam ihm
auf dem ebenen Plützlein, welches beide Stiegen voneinander schied, ein ste¬
hender Knabe vor Augen, der den Kopf neigte und mit fröhlichem Angesicht
holdselig lächelte, mit einem jüdischen Todtenleilach überdeckt, am linken Schlaf
verwundet, an Größe und Alter dem Simon gleich, wie ihn dieser Herr bei
Besichtigung des Leibes mit eigenen Augen gesehn und mit lebhafter Einbil¬
dung in sein Gedächtniß gedrückt hatte. Der Herr erstaunte und dachte noch
hin und her, was dies bedeuten möchte, als er mit seiner Gemahlin und et¬
lichen Gästen bei Tische saß. Da hörte er einen Menschensinger etliche Mal
an die Thüre des Speisesaals anklopfen. Der Diener wurde hinausgeschickt
und meldete, ein unbekanntes Mädchen begehre inständig, hereingelassen zu
werden. Eingelassen und gütig angeredet, antwortete das vierzehnjährige Mägd¬
lein, sie heiße Sara Vrefin, wohne jetzt unter den Christen, um in dem christ¬
lichen Glauben unterwiesen zu werden und hätte vor kurzem bei dem Zins¬
mann im Haus des Lazarus Abeles als Mggd gedient, dort hätte sie mit
ihren Augen gesehn, wie grausam Lazarus-seinem Sohne Simon darum zu¬
gesetzt habe, weil dieser, um getauft zu werden, zu den Christen geflüchtet sei.

Auf diese und andere Aussagen wurde Sara dem Lazarus gegenüber¬
gestellt, dem sie mit großer Gemüthsfreiheit und nachdrücklichen Worten alles,


Weile kein Wort richtig aussprechen und nichts deutlich beantworten konnte.
Endlich, da die Herrn Commissarien beständig darauf drangen, ob er des Kna¬
ben Leib kenne, gab er mit geneigtem Kopf und schwacher Stimme zur Ant¬
wort, es sei der Leib seines Sohnes Simon und als man ihm serner zusetzte,
woher die Wunde am linken Schlaf herrühre, gab er verwirrte und wider¬
sprechende Antworten. So wurde er wieder in das Gefängniß geführt, der
Körper des Knaben aber von dem jüdischen Leichenbret in einen christlichen
Sarg gelegt und unterdeß in den tiefen Nathhauskeller gestellt. Die Herrn
Commissarien begannen unermüdlich Christen und Juden auszufragen. Ungeachtet
aller Jndicicn aber blieb Lazarus und die in besonderem Gewahrsam gefan¬
genen Frauen, Lia, sein Eheweib und Heimele, seine Köchin fast einstimmig
auf derselben Aussage: Simon habe nie dieFlucht aus dem väterlichen Hause
genommen, um ein Christ zu wer'den, sondern sei lange Zeit mit der Kops-
krütze behaftet gewesen und deshalb zu Hause gehalten worden, zuletzt habe
er heftigen Widerwillen vor Speise bekommen, sei in gewaltthätiger Tobsucht
gestürzet und habe sich zu Tode gefallen. Alle Mittel die Wahrheit zu erfor¬
schen, halsen nicht, Lazarus Abeles und die beiden einzigen Zeugen, welche
man damals kannte, blieben halsstarrig.

In Gedanken darüber ging der wohlgeborene Franz Maximilian Frci-
her von Klarstein, bestellter Commissarius, eines Mittags heim und schritt die
Treppe in seinem Hause hinauf; da kam ihm plötzlich vor, als würde er hef¬
tig an die Seite gestoßen, er wandte sich verdrießlich um, stehe, da kam ihm
auf dem ebenen Plützlein, welches beide Stiegen voneinander schied, ein ste¬
hender Knabe vor Augen, der den Kopf neigte und mit fröhlichem Angesicht
holdselig lächelte, mit einem jüdischen Todtenleilach überdeckt, am linken Schlaf
verwundet, an Größe und Alter dem Simon gleich, wie ihn dieser Herr bei
Besichtigung des Leibes mit eigenen Augen gesehn und mit lebhafter Einbil¬
dung in sein Gedächtniß gedrückt hatte. Der Herr erstaunte und dachte noch
hin und her, was dies bedeuten möchte, als er mit seiner Gemahlin und et¬
lichen Gästen bei Tische saß. Da hörte er einen Menschensinger etliche Mal
an die Thüre des Speisesaals anklopfen. Der Diener wurde hinausgeschickt
und meldete, ein unbekanntes Mädchen begehre inständig, hereingelassen zu
werden. Eingelassen und gütig angeredet, antwortete das vierzehnjährige Mägd¬
lein, sie heiße Sara Vrefin, wohne jetzt unter den Christen, um in dem christ¬
lichen Glauben unterwiesen zu werden und hätte vor kurzem bei dem Zins¬
mann im Haus des Lazarus Abeles als Mggd gedient, dort hätte sie mit
ihren Augen gesehn, wie grausam Lazarus-seinem Sohne Simon darum zu¬
gesetzt habe, weil dieser, um getauft zu werden, zu den Christen geflüchtet sei.

Auf diese und andere Aussagen wurde Sara dem Lazarus gegenüber¬
gestellt, dem sie mit großer Gemüthsfreiheit und nachdrücklichen Worten alles,


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[0462] Weile kein Wort richtig aussprechen und nichts deutlich beantworten konnte. Endlich, da die Herrn Commissarien beständig darauf drangen, ob er des Kna¬ ben Leib kenne, gab er mit geneigtem Kopf und schwacher Stimme zur Ant¬ wort, es sei der Leib seines Sohnes Simon und als man ihm serner zusetzte, woher die Wunde am linken Schlaf herrühre, gab er verwirrte und wider¬ sprechende Antworten. So wurde er wieder in das Gefängniß geführt, der Körper des Knaben aber von dem jüdischen Leichenbret in einen christlichen Sarg gelegt und unterdeß in den tiefen Nathhauskeller gestellt. Die Herrn Commissarien begannen unermüdlich Christen und Juden auszufragen. Ungeachtet aller Jndicicn aber blieb Lazarus und die in besonderem Gewahrsam gefan¬ genen Frauen, Lia, sein Eheweib und Heimele, seine Köchin fast einstimmig auf derselben Aussage: Simon habe nie dieFlucht aus dem väterlichen Hause genommen, um ein Christ zu wer'den, sondern sei lange Zeit mit der Kops- krütze behaftet gewesen und deshalb zu Hause gehalten worden, zuletzt habe er heftigen Widerwillen vor Speise bekommen, sei in gewaltthätiger Tobsucht gestürzet und habe sich zu Tode gefallen. Alle Mittel die Wahrheit zu erfor¬ schen, halsen nicht, Lazarus Abeles und die beiden einzigen Zeugen, welche man damals kannte, blieben halsstarrig. In Gedanken darüber ging der wohlgeborene Franz Maximilian Frci- her von Klarstein, bestellter Commissarius, eines Mittags heim und schritt die Treppe in seinem Hause hinauf; da kam ihm plötzlich vor, als würde er hef¬ tig an die Seite gestoßen, er wandte sich verdrießlich um, stehe, da kam ihm auf dem ebenen Plützlein, welches beide Stiegen voneinander schied, ein ste¬ hender Knabe vor Augen, der den Kopf neigte und mit fröhlichem Angesicht holdselig lächelte, mit einem jüdischen Todtenleilach überdeckt, am linken Schlaf verwundet, an Größe und Alter dem Simon gleich, wie ihn dieser Herr bei Besichtigung des Leibes mit eigenen Augen gesehn und mit lebhafter Einbil¬ dung in sein Gedächtniß gedrückt hatte. Der Herr erstaunte und dachte noch hin und her, was dies bedeuten möchte, als er mit seiner Gemahlin und et¬ lichen Gästen bei Tische saß. Da hörte er einen Menschensinger etliche Mal an die Thüre des Speisesaals anklopfen. Der Diener wurde hinausgeschickt und meldete, ein unbekanntes Mädchen begehre inständig, hereingelassen zu werden. Eingelassen und gütig angeredet, antwortete das vierzehnjährige Mägd¬ lein, sie heiße Sara Vrefin, wohne jetzt unter den Christen, um in dem christ¬ lichen Glauben unterwiesen zu werden und hätte vor kurzem bei dem Zins¬ mann im Haus des Lazarus Abeles als Mggd gedient, dort hätte sie mit ihren Augen gesehn, wie grausam Lazarus-seinem Sohne Simon darum zu¬ gesetzt habe, weil dieser, um getauft zu werden, zu den Christen geflüchtet sei. Auf diese und andere Aussagen wurde Sara dem Lazarus gegenüber¬ gestellt, dem sie mit großer Gemüthsfreiheit und nachdrücklichen Worten alles,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/462>, abgerufen am 05.07.2024.