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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Schiller war kein abstracter Tugendspiegel, kein einseitiger Patriot, kein
blinder Freiheitsenthusiast; er hat, ehe er das wurde, was er war, mit schwe¬
ren Nennungen zu kämpfen gehabt; er hat in seinen Ansichten über die we¬
sentlichsten Glaubenspunkte häusiger gewechselt als sein großer Freund, und
ihn vom Anfang seines Lebens bis zum Schluß desselben als Vorbild auszu¬
stellen, würde ein gewagtes Unternehmen sein. Aber er war mehr als das,
was seine Partei von ihm aussagt, er war eine echt lebendige, starke und
gewaltige Natur, die gleich den griechischen Heroen sich immer stärkte und läu¬
terte durch die Ungeheuer, die ein scheinbarer Unstern ihr zu bekämpfen gab;
er war nicht blos ein liebenswürdiger Idealist, sondern ein großer Dichter,
dessen Größe freilich nicht da liegt, wo man sie gewohnlich sucht.

An Stelle jener Stichworte, Freiheit, Tugend und Vaterland ist jetzt ein
andres getreten, der Idealismus. Man spricht in unsrer jüngsten Poesie
von einer Schule der Realisten, und stellt dieser, die angeblich die Poesie an
den gemeinen Weltlauf verräth, Schiller als den Dichter des Ideals gegen¬
über. Wenn man auch ganz davon absieht, daß solche abstracte Gegensätze
überhaupt nichts sagen, daß sie sich nach Belieben umkehren lassen, so ist bei
dieser Auffassung merkwürdig, daß sie grade das als Schillers Vorzug her¬
vorhebt, was offenbar sein Fehler ist, und ihm das streitig macht, worin seine
Größe liegt. Der Punkt ist für das Verständniß unsrer heutigen ästhetischen
Streitfragen so wichtig, daß wir näher darauf eingehn müssen.

Bekanntlich haben Goethe und Schiller selbst die Ausdrücke Realismus
und Idealismus auf sich angewandt, aber wie das, was sie darunter dach¬
ten, von der heute gangbaren Meinung abweicht, zeigt am deutlichsten Goethes
Erzählung von ihrem ersten Zusammentreffen.

Goethe trug in Schillers Hause die Metamorphose der Pflanzen lebhaft
vor und ließ mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Ur-
pflanze vor seinen Augen entstehn. "Schiller vernahm und schaute das alles
mit großer Theilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als ich grade geendet,
schüttelte er den Kopf und sagte: das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.
Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen: denn der Punkt, der uns trennte, war
dadurch aufs strengste bezeichnet. Der alte Groll wollte sich regen, ich nahm
mich aber zusammen und versetzte: das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen
habe, ohne es zu wissen und sie jogar mit Augen sehe." Goethe fügt hinzu, daß
ihn folgender Satz ganz unglücklich gemacht habe: "Wie kann jemals Erfah¬
rung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte? denn darin be¬
steht eben das Eigenthümliche der letztern, daß ihr niemals eine Erfahrung
congruiren könne." Goethe kann sich nicht genug darüber verwundern, daß,
was er als Erfahrung aussprach, Schiller nur für eine Idee galt.

Wer diese Erzählung aufmerksam liest, wird mit einiger Verwunderung


51*

Schiller war kein abstracter Tugendspiegel, kein einseitiger Patriot, kein
blinder Freiheitsenthusiast; er hat, ehe er das wurde, was er war, mit schwe¬
ren Nennungen zu kämpfen gehabt; er hat in seinen Ansichten über die we¬
sentlichsten Glaubenspunkte häusiger gewechselt als sein großer Freund, und
ihn vom Anfang seines Lebens bis zum Schluß desselben als Vorbild auszu¬
stellen, würde ein gewagtes Unternehmen sein. Aber er war mehr als das,
was seine Partei von ihm aussagt, er war eine echt lebendige, starke und
gewaltige Natur, die gleich den griechischen Heroen sich immer stärkte und läu¬
terte durch die Ungeheuer, die ein scheinbarer Unstern ihr zu bekämpfen gab;
er war nicht blos ein liebenswürdiger Idealist, sondern ein großer Dichter,
dessen Größe freilich nicht da liegt, wo man sie gewohnlich sucht.

An Stelle jener Stichworte, Freiheit, Tugend und Vaterland ist jetzt ein
andres getreten, der Idealismus. Man spricht in unsrer jüngsten Poesie
von einer Schule der Realisten, und stellt dieser, die angeblich die Poesie an
den gemeinen Weltlauf verräth, Schiller als den Dichter des Ideals gegen¬
über. Wenn man auch ganz davon absieht, daß solche abstracte Gegensätze
überhaupt nichts sagen, daß sie sich nach Belieben umkehren lassen, so ist bei
dieser Auffassung merkwürdig, daß sie grade das als Schillers Vorzug her¬
vorhebt, was offenbar sein Fehler ist, und ihm das streitig macht, worin seine
Größe liegt. Der Punkt ist für das Verständniß unsrer heutigen ästhetischen
Streitfragen so wichtig, daß wir näher darauf eingehn müssen.

Bekanntlich haben Goethe und Schiller selbst die Ausdrücke Realismus
und Idealismus auf sich angewandt, aber wie das, was sie darunter dach¬
ten, von der heute gangbaren Meinung abweicht, zeigt am deutlichsten Goethes
Erzählung von ihrem ersten Zusammentreffen.

Goethe trug in Schillers Hause die Metamorphose der Pflanzen lebhaft
vor und ließ mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Ur-
pflanze vor seinen Augen entstehn. „Schiller vernahm und schaute das alles
mit großer Theilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als ich grade geendet,
schüttelte er den Kopf und sagte: das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.
Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen: denn der Punkt, der uns trennte, war
dadurch aufs strengste bezeichnet. Der alte Groll wollte sich regen, ich nahm
mich aber zusammen und versetzte: das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen
habe, ohne es zu wissen und sie jogar mit Augen sehe." Goethe fügt hinzu, daß
ihn folgender Satz ganz unglücklich gemacht habe: „Wie kann jemals Erfah¬
rung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte? denn darin be¬
steht eben das Eigenthümliche der letztern, daß ihr niemals eine Erfahrung
congruiren könne." Goethe kann sich nicht genug darüber verwundern, daß,
was er als Erfahrung aussprach, Schiller nur für eine Idee galt.

Wer diese Erzählung aufmerksam liest, wird mit einiger Verwunderung


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[0411] Schiller war kein abstracter Tugendspiegel, kein einseitiger Patriot, kein blinder Freiheitsenthusiast; er hat, ehe er das wurde, was er war, mit schwe¬ ren Nennungen zu kämpfen gehabt; er hat in seinen Ansichten über die we¬ sentlichsten Glaubenspunkte häusiger gewechselt als sein großer Freund, und ihn vom Anfang seines Lebens bis zum Schluß desselben als Vorbild auszu¬ stellen, würde ein gewagtes Unternehmen sein. Aber er war mehr als das, was seine Partei von ihm aussagt, er war eine echt lebendige, starke und gewaltige Natur, die gleich den griechischen Heroen sich immer stärkte und läu¬ terte durch die Ungeheuer, die ein scheinbarer Unstern ihr zu bekämpfen gab; er war nicht blos ein liebenswürdiger Idealist, sondern ein großer Dichter, dessen Größe freilich nicht da liegt, wo man sie gewohnlich sucht. An Stelle jener Stichworte, Freiheit, Tugend und Vaterland ist jetzt ein andres getreten, der Idealismus. Man spricht in unsrer jüngsten Poesie von einer Schule der Realisten, und stellt dieser, die angeblich die Poesie an den gemeinen Weltlauf verräth, Schiller als den Dichter des Ideals gegen¬ über. Wenn man auch ganz davon absieht, daß solche abstracte Gegensätze überhaupt nichts sagen, daß sie sich nach Belieben umkehren lassen, so ist bei dieser Auffassung merkwürdig, daß sie grade das als Schillers Vorzug her¬ vorhebt, was offenbar sein Fehler ist, und ihm das streitig macht, worin seine Größe liegt. Der Punkt ist für das Verständniß unsrer heutigen ästhetischen Streitfragen so wichtig, daß wir näher darauf eingehn müssen. Bekanntlich haben Goethe und Schiller selbst die Ausdrücke Realismus und Idealismus auf sich angewandt, aber wie das, was sie darunter dach¬ ten, von der heute gangbaren Meinung abweicht, zeigt am deutlichsten Goethes Erzählung von ihrem ersten Zusammentreffen. Goethe trug in Schillers Hause die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor und ließ mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Ur- pflanze vor seinen Augen entstehn. „Schiller vernahm und schaute das alles mit großer Theilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als ich grade geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee. Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen: denn der Punkt, der uns trennte, war dadurch aufs strengste bezeichnet. Der alte Groll wollte sich regen, ich nahm mich aber zusammen und versetzte: das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen und sie jogar mit Augen sehe." Goethe fügt hinzu, daß ihn folgender Satz ganz unglücklich gemacht habe: „Wie kann jemals Erfah¬ rung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte? denn darin be¬ steht eben das Eigenthümliche der letztern, daß ihr niemals eine Erfahrung congruiren könne." Goethe kann sich nicht genug darüber verwundern, daß, was er als Erfahrung aussprach, Schiller nur für eine Idee galt. Wer diese Erzählung aufmerksam liest, wird mit einiger Verwunderung 51*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/411>, abgerufen am 26.07.2024.