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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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auch auf den kühleren Nordländer übergeht, milde Sitten und offnes, aufge¬
schlossenes, nach außen gehendes Wesen. Daher kennt man sich gegenseitig,
begrüßt sich in flüchtiger Begegnung, die einen gehen, die andern reiten in
Geschäften durch die Stadt, man bleibt stehen, man plaudert viel und lange
über Tagesgeschichten und findet dabei immer noch Zeit, das Seine abzu¬
machen. Die hohen Thüren der Kaufladen stehen immer offen, und ungehindert
reitet man hinein, kauft hoch zu Roß ein, man geht wol auch in Hemdärmeln
quer über ti'e Straße, der Schuster nimmt Maß halb im Freien, der bewegliche
Ellenbogen des Schneiders streift fast an den Vorübergehenden, und sollte
etwa eine Naht am Rock geplatzt sein, so wartet man in der Thür ungenirt,
bis der Künstler ihn ausgebessert. Werden erst gegen Abend die Fenster der
Privathäuser geöffnet, so kann man. ohne deshalb neugierig zu sein, im
flüchtigen Vorbeigehen einen ganzen Familienkreis und durch die offnen
Jnnenthüren weit hinten das Innere der Gemächer übersehen. Oeffentlich-
keit ist dort in allem die Losung.

Nach zehn Uhr fängt der Markt an sich zu leeren. Die Sonne beginnt
schon drückend zu werden und jeder sucht Stärkung am reichbesetzten Früh¬
stückstisch. Da packt der Landbewohner seine zwei leeren Tröge wieder auf
den Esel, setzt sich noch selbst dahinter und klammert sich, um nicht herunter¬
zurutschen, mit gebeugtem Nacken nach vorn fest. Ist er lang und schmächtig,
so erreichen seine dürren Beine beinahe den Erdboden und machen den Aus¬
zug um so possirlicher. Lieblich dagegen nimmt sich das Landmädchen aus,
welches in Strohhut mit bunter Schleife seitwärts auf dem Esel sitzend ge¬
mächlich nach ihrem friedlichen Dorfe reitet -- dieses, wie so vieles andre,
eine herrliche Ausbeute für den Genremaler. Die glühende Mittagssonne hat
den Markt ganz geleert und auch von den Straßen die meisten Menschen
verscheucht.

Wählen wir zu unsrer ferneren Wanderung durch die Stadt die späteren
Nachmittagsstunden. Eine laulich-milde Lust umfächelt uns, die Sonne
sinkt, es neigt sich der Tag, ein Lichtmeer gießt sich über Stadt und Land¬
schaft, aber die warmen Tinten wechseln mit tiefblauen melancholischen Schat¬
ten und die Klarheit des Horizontes ringsum auf den Gipfeln der Berge
leuchtet hehr und mild hernieder. Wir überlassen die Fensterschau in den
fashionablen Straßen, wo in tändelnden Zwiegespräch mit vorübergehenden
Freunden die weiß gekleideten Creolinnen ihre zweifelhaften Triumphe feiern,
den geputzten jungen Söhnen des Landes, und durchschreiten die ärmeren
peripherischen Siraßen der Stadt: auch hier begegnet uns Liebenswürdigkeit,
Natur, Leben, Poesie. Wir kreuzen mehre Ecken nach unten hin, dem
Gomre zu; das Terrain.senkt sich zuweilen erheblich, und tieft Löcher mit¬
ten in der Straße bekunden, wie hier, wo die Verwaltung der Stadt alles


auch auf den kühleren Nordländer übergeht, milde Sitten und offnes, aufge¬
schlossenes, nach außen gehendes Wesen. Daher kennt man sich gegenseitig,
begrüßt sich in flüchtiger Begegnung, die einen gehen, die andern reiten in
Geschäften durch die Stadt, man bleibt stehen, man plaudert viel und lange
über Tagesgeschichten und findet dabei immer noch Zeit, das Seine abzu¬
machen. Die hohen Thüren der Kaufladen stehen immer offen, und ungehindert
reitet man hinein, kauft hoch zu Roß ein, man geht wol auch in Hemdärmeln
quer über ti'e Straße, der Schuster nimmt Maß halb im Freien, der bewegliche
Ellenbogen des Schneiders streift fast an den Vorübergehenden, und sollte
etwa eine Naht am Rock geplatzt sein, so wartet man in der Thür ungenirt,
bis der Künstler ihn ausgebessert. Werden erst gegen Abend die Fenster der
Privathäuser geöffnet, so kann man. ohne deshalb neugierig zu sein, im
flüchtigen Vorbeigehen einen ganzen Familienkreis und durch die offnen
Jnnenthüren weit hinten das Innere der Gemächer übersehen. Oeffentlich-
keit ist dort in allem die Losung.

Nach zehn Uhr fängt der Markt an sich zu leeren. Die Sonne beginnt
schon drückend zu werden und jeder sucht Stärkung am reichbesetzten Früh¬
stückstisch. Da packt der Landbewohner seine zwei leeren Tröge wieder auf
den Esel, setzt sich noch selbst dahinter und klammert sich, um nicht herunter¬
zurutschen, mit gebeugtem Nacken nach vorn fest. Ist er lang und schmächtig,
so erreichen seine dürren Beine beinahe den Erdboden und machen den Aus¬
zug um so possirlicher. Lieblich dagegen nimmt sich das Landmädchen aus,
welches in Strohhut mit bunter Schleife seitwärts auf dem Esel sitzend ge¬
mächlich nach ihrem friedlichen Dorfe reitet — dieses, wie so vieles andre,
eine herrliche Ausbeute für den Genremaler. Die glühende Mittagssonne hat
den Markt ganz geleert und auch von den Straßen die meisten Menschen
verscheucht.

Wählen wir zu unsrer ferneren Wanderung durch die Stadt die späteren
Nachmittagsstunden. Eine laulich-milde Lust umfächelt uns, die Sonne
sinkt, es neigt sich der Tag, ein Lichtmeer gießt sich über Stadt und Land¬
schaft, aber die warmen Tinten wechseln mit tiefblauen melancholischen Schat¬
ten und die Klarheit des Horizontes ringsum auf den Gipfeln der Berge
leuchtet hehr und mild hernieder. Wir überlassen die Fensterschau in den
fashionablen Straßen, wo in tändelnden Zwiegespräch mit vorübergehenden
Freunden die weiß gekleideten Creolinnen ihre zweifelhaften Triumphe feiern,
den geputzten jungen Söhnen des Landes, und durchschreiten die ärmeren
peripherischen Siraßen der Stadt: auch hier begegnet uns Liebenswürdigkeit,
Natur, Leben, Poesie. Wir kreuzen mehre Ecken nach unten hin, dem
Gomre zu; das Terrain.senkt sich zuweilen erheblich, und tieft Löcher mit¬
ten in der Straße bekunden, wie hier, wo die Verwaltung der Stadt alles


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[0358] auch auf den kühleren Nordländer übergeht, milde Sitten und offnes, aufge¬ schlossenes, nach außen gehendes Wesen. Daher kennt man sich gegenseitig, begrüßt sich in flüchtiger Begegnung, die einen gehen, die andern reiten in Geschäften durch die Stadt, man bleibt stehen, man plaudert viel und lange über Tagesgeschichten und findet dabei immer noch Zeit, das Seine abzu¬ machen. Die hohen Thüren der Kaufladen stehen immer offen, und ungehindert reitet man hinein, kauft hoch zu Roß ein, man geht wol auch in Hemdärmeln quer über ti'e Straße, der Schuster nimmt Maß halb im Freien, der bewegliche Ellenbogen des Schneiders streift fast an den Vorübergehenden, und sollte etwa eine Naht am Rock geplatzt sein, so wartet man in der Thür ungenirt, bis der Künstler ihn ausgebessert. Werden erst gegen Abend die Fenster der Privathäuser geöffnet, so kann man. ohne deshalb neugierig zu sein, im flüchtigen Vorbeigehen einen ganzen Familienkreis und durch die offnen Jnnenthüren weit hinten das Innere der Gemächer übersehen. Oeffentlich- keit ist dort in allem die Losung. Nach zehn Uhr fängt der Markt an sich zu leeren. Die Sonne beginnt schon drückend zu werden und jeder sucht Stärkung am reichbesetzten Früh¬ stückstisch. Da packt der Landbewohner seine zwei leeren Tröge wieder auf den Esel, setzt sich noch selbst dahinter und klammert sich, um nicht herunter¬ zurutschen, mit gebeugtem Nacken nach vorn fest. Ist er lang und schmächtig, so erreichen seine dürren Beine beinahe den Erdboden und machen den Aus¬ zug um so possirlicher. Lieblich dagegen nimmt sich das Landmädchen aus, welches in Strohhut mit bunter Schleife seitwärts auf dem Esel sitzend ge¬ mächlich nach ihrem friedlichen Dorfe reitet — dieses, wie so vieles andre, eine herrliche Ausbeute für den Genremaler. Die glühende Mittagssonne hat den Markt ganz geleert und auch von den Straßen die meisten Menschen verscheucht. Wählen wir zu unsrer ferneren Wanderung durch die Stadt die späteren Nachmittagsstunden. Eine laulich-milde Lust umfächelt uns, die Sonne sinkt, es neigt sich der Tag, ein Lichtmeer gießt sich über Stadt und Land¬ schaft, aber die warmen Tinten wechseln mit tiefblauen melancholischen Schat¬ ten und die Klarheit des Horizontes ringsum auf den Gipfeln der Berge leuchtet hehr und mild hernieder. Wir überlassen die Fensterschau in den fashionablen Straßen, wo in tändelnden Zwiegespräch mit vorübergehenden Freunden die weiß gekleideten Creolinnen ihre zweifelhaften Triumphe feiern, den geputzten jungen Söhnen des Landes, und durchschreiten die ärmeren peripherischen Siraßen der Stadt: auch hier begegnet uns Liebenswürdigkeit, Natur, Leben, Poesie. Wir kreuzen mehre Ecken nach unten hin, dem Gomre zu; das Terrain.senkt sich zuweilen erheblich, und tieft Löcher mit¬ ten in der Straße bekunden, wie hier, wo die Verwaltung der Stadt alles

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/358>, abgerufen am 26.07.2024.