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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Führern des Liberalismus gehört hatten, wiederholt. Außerdem, daß Stol¬
bergs Reise die erste ist, die mit Vorliebe für den Katholicismus geschrieben
ist, unterscheidet sie sich von den frühern auch durch ihre Ausdehnung; sie um¬
faßte Calabrien und Apulien.

Ein ganz entgegengesetzter Ton geht durch Seumes "Spaziergang nach
Syrakus im Jahr 1802". Die brutale Gewalt, deren Opfer der wackere
Mann gewesen war, die harten Schicksale, die er erduldet, hatten seinen männ¬
lichen Geist weder gebeugt noch abgestumpft, noch verbittert, aber allerdings
sein Gefühl für menschliches Elend, seinen Abscheu gegen Unterdrückung ge¬
schärft. Den an "Milchspeise", wie es Seume genannt hat, gewöhnten Aesthe-
tikern und Literaturfreunden konnte die derbe Kost, die hier geboten wird, nicht
zusagen. Man erinnert sich der überschwenglichen Phantasicgc-malte Italiens
von Jean Paul (der nie dort war) im Titan (1797--1802): ein größerer Contrast
gegen Seumes Buch ist nicht denkbar. Tieck hat das Buch (im Däumling)
so ledern genannt, als die berühmten Stiefel, die den ganzen neunmonatlichen
Spaziergang aushielten, ohne vorgeschuht zu werden; heutzutage werden we¬
nige dies schnöde Urtheil unterschreiben wollen. Seume war der erste deutsche
Reisende, dem die Kunst und das Alterthum in Italien Nebensache war, er
wanderte, um das Land und die Leute kennen zu lernen. Es ist wol kein
Zufall, daß er Goethes Ausenthalt in Italien gar nicht erwähnt; auf dem
Rückweg in Weimar besuchte er ihn nicht, aber Wieland und die Herzogin
Mutter. Er nennt sich selbst in gelehrten Dingen und Sachen der Kunst saum¬
selig und sorglos, einen Laien im Heiligthum. In Dresden sah er die Galerie
nicht, weil er dazu noch einmal hätte Schuhe anziehen müssen, und den An¬
tikensaal nicht, weil er den Inspector das erste Mal nicht traf. Uebrigens
fehlte es ihm nicht an Sinn für Kunstschönheit, aber dieser Sinn war unge¬
bildet. Canovas Hebe ging ihm über alle Antiken und begeisterte ihn sogar
zu Versen (S. 101). Im Louvre, wo damals die Juwelen der italienischen
Museen vereint waren, interessirten ihn die Portrütköpfe am meisten und sie
waren ihm überhaupt lieber als Ideale (S. 450). Was also den nordischen
Wanderer am meisten fesselt und entzückt, das hatte sür ihn zum Theil gar
keinen Reiz; dagegen häuften sich die abstoßenden und empörenden Eindrücke
in dem ohnehin unglücklichen, nun von Aufruhr, Krieg, Plünderung völlig er¬
schöpften Lande mehr zusammen, als in irgend einer andern Zeit. Noch war
die Erinnerung an die neapolitanischen Greuel lebendig. "Was die Demo¬
kraten in Paris einfach thaten, haben die royalistischen Lazaronen und Cala-
brcscn in Neapel zehnfach abscheulich sublimirt. Man hat im eigentlichsten Sinn
die Menschen lebendig gebraten, Stücke abgeschnitten und ihre Freunde gezwun¬
gen, davon zu essen; der andern schändlichen Abscheulichkeiten nicht zu erwähnen.
Ein wahrhafter, durchaus rechtlicher Mann sagte mir, man sei mit einer Tasche


Führern des Liberalismus gehört hatten, wiederholt. Außerdem, daß Stol¬
bergs Reise die erste ist, die mit Vorliebe für den Katholicismus geschrieben
ist, unterscheidet sie sich von den frühern auch durch ihre Ausdehnung; sie um¬
faßte Calabrien und Apulien.

Ein ganz entgegengesetzter Ton geht durch Seumes „Spaziergang nach
Syrakus im Jahr 1802". Die brutale Gewalt, deren Opfer der wackere
Mann gewesen war, die harten Schicksale, die er erduldet, hatten seinen männ¬
lichen Geist weder gebeugt noch abgestumpft, noch verbittert, aber allerdings
sein Gefühl für menschliches Elend, seinen Abscheu gegen Unterdrückung ge¬
schärft. Den an „Milchspeise", wie es Seume genannt hat, gewöhnten Aesthe-
tikern und Literaturfreunden konnte die derbe Kost, die hier geboten wird, nicht
zusagen. Man erinnert sich der überschwenglichen Phantasicgc-malte Italiens
von Jean Paul (der nie dort war) im Titan (1797—1802): ein größerer Contrast
gegen Seumes Buch ist nicht denkbar. Tieck hat das Buch (im Däumling)
so ledern genannt, als die berühmten Stiefel, die den ganzen neunmonatlichen
Spaziergang aushielten, ohne vorgeschuht zu werden; heutzutage werden we¬
nige dies schnöde Urtheil unterschreiben wollen. Seume war der erste deutsche
Reisende, dem die Kunst und das Alterthum in Italien Nebensache war, er
wanderte, um das Land und die Leute kennen zu lernen. Es ist wol kein
Zufall, daß er Goethes Ausenthalt in Italien gar nicht erwähnt; auf dem
Rückweg in Weimar besuchte er ihn nicht, aber Wieland und die Herzogin
Mutter. Er nennt sich selbst in gelehrten Dingen und Sachen der Kunst saum¬
selig und sorglos, einen Laien im Heiligthum. In Dresden sah er die Galerie
nicht, weil er dazu noch einmal hätte Schuhe anziehen müssen, und den An¬
tikensaal nicht, weil er den Inspector das erste Mal nicht traf. Uebrigens
fehlte es ihm nicht an Sinn für Kunstschönheit, aber dieser Sinn war unge¬
bildet. Canovas Hebe ging ihm über alle Antiken und begeisterte ihn sogar
zu Versen (S. 101). Im Louvre, wo damals die Juwelen der italienischen
Museen vereint waren, interessirten ihn die Portrütköpfe am meisten und sie
waren ihm überhaupt lieber als Ideale (S. 450). Was also den nordischen
Wanderer am meisten fesselt und entzückt, das hatte sür ihn zum Theil gar
keinen Reiz; dagegen häuften sich die abstoßenden und empörenden Eindrücke
in dem ohnehin unglücklichen, nun von Aufruhr, Krieg, Plünderung völlig er¬
schöpften Lande mehr zusammen, als in irgend einer andern Zeit. Noch war
die Erinnerung an die neapolitanischen Greuel lebendig. „Was die Demo¬
kraten in Paris einfach thaten, haben die royalistischen Lazaronen und Cala-
brcscn in Neapel zehnfach abscheulich sublimirt. Man hat im eigentlichsten Sinn
die Menschen lebendig gebraten, Stücke abgeschnitten und ihre Freunde gezwun¬
gen, davon zu essen; der andern schändlichen Abscheulichkeiten nicht zu erwähnen.
Ein wahrhafter, durchaus rechtlicher Mann sagte mir, man sei mit einer Tasche


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[0346] Führern des Liberalismus gehört hatten, wiederholt. Außerdem, daß Stol¬ bergs Reise die erste ist, die mit Vorliebe für den Katholicismus geschrieben ist, unterscheidet sie sich von den frühern auch durch ihre Ausdehnung; sie um¬ faßte Calabrien und Apulien. Ein ganz entgegengesetzter Ton geht durch Seumes „Spaziergang nach Syrakus im Jahr 1802". Die brutale Gewalt, deren Opfer der wackere Mann gewesen war, die harten Schicksale, die er erduldet, hatten seinen männ¬ lichen Geist weder gebeugt noch abgestumpft, noch verbittert, aber allerdings sein Gefühl für menschliches Elend, seinen Abscheu gegen Unterdrückung ge¬ schärft. Den an „Milchspeise", wie es Seume genannt hat, gewöhnten Aesthe- tikern und Literaturfreunden konnte die derbe Kost, die hier geboten wird, nicht zusagen. Man erinnert sich der überschwenglichen Phantasicgc-malte Italiens von Jean Paul (der nie dort war) im Titan (1797—1802): ein größerer Contrast gegen Seumes Buch ist nicht denkbar. Tieck hat das Buch (im Däumling) so ledern genannt, als die berühmten Stiefel, die den ganzen neunmonatlichen Spaziergang aushielten, ohne vorgeschuht zu werden; heutzutage werden we¬ nige dies schnöde Urtheil unterschreiben wollen. Seume war der erste deutsche Reisende, dem die Kunst und das Alterthum in Italien Nebensache war, er wanderte, um das Land und die Leute kennen zu lernen. Es ist wol kein Zufall, daß er Goethes Ausenthalt in Italien gar nicht erwähnt; auf dem Rückweg in Weimar besuchte er ihn nicht, aber Wieland und die Herzogin Mutter. Er nennt sich selbst in gelehrten Dingen und Sachen der Kunst saum¬ selig und sorglos, einen Laien im Heiligthum. In Dresden sah er die Galerie nicht, weil er dazu noch einmal hätte Schuhe anziehen müssen, und den An¬ tikensaal nicht, weil er den Inspector das erste Mal nicht traf. Uebrigens fehlte es ihm nicht an Sinn für Kunstschönheit, aber dieser Sinn war unge¬ bildet. Canovas Hebe ging ihm über alle Antiken und begeisterte ihn sogar zu Versen (S. 101). Im Louvre, wo damals die Juwelen der italienischen Museen vereint waren, interessirten ihn die Portrütköpfe am meisten und sie waren ihm überhaupt lieber als Ideale (S. 450). Was also den nordischen Wanderer am meisten fesselt und entzückt, das hatte sür ihn zum Theil gar keinen Reiz; dagegen häuften sich die abstoßenden und empörenden Eindrücke in dem ohnehin unglücklichen, nun von Aufruhr, Krieg, Plünderung völlig er¬ schöpften Lande mehr zusammen, als in irgend einer andern Zeit. Noch war die Erinnerung an die neapolitanischen Greuel lebendig. „Was die Demo¬ kraten in Paris einfach thaten, haben die royalistischen Lazaronen und Cala- brcscn in Neapel zehnfach abscheulich sublimirt. Man hat im eigentlichsten Sinn die Menschen lebendig gebraten, Stücke abgeschnitten und ihre Freunde gezwun¬ gen, davon zu essen; der andern schändlichen Abscheulichkeiten nicht zu erwähnen. Ein wahrhafter, durchaus rechtlicher Mann sagte mir, man sei mit einer Tasche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/346>, abgerufen am 05.07.2024.