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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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würdet über die Einfalt der rheinischen Landleute, wenn sie mit geselliger
Andacht Lieder zum Andenken eines frommen Mannes singen, ihr verstehet
es Mücken zu saigen und Kameele zu verschlucken, wenn ihr nur der mißleiteten
Andacht spottet, und keine Hohnlache sür den Fanatismus des Köhlerunglau¬
bens habt, keine für die Versammlung von Gesetzgebern, welche den Mann
durch ein Decret, durch eine Stelle im neuen Tempel aller Götter apo-
theosiret, den, als er lebte, ein Land nach dein andern ausspie, dem weder
Religion noch Sitte heilig war, der im Candide die Vorsehung Gottes lä¬
sterte, dem jede Tugend ein Gespött war!" (I. 27) Bei der Beschreibung des
Reliefs auf der Säule Marc Aurels, wo das verschmachtende Heer durch einen
Regenguß gerettet wird, erklärt er die Legende, daß dieses Wunder durch das Gebet
christlicher Soldaten bewirkt sei, sür ebenso glaubwürdig, als eine andre Legende,
daß Kaiser Julian an dem Wiederbau des Tempels zu Jerusalem durch ein
übernatürliches Ereigniß verhindert worden. Diese Geschichten zu bezweifeln
oder natürlich auszulegen, scheint ihm ein ziemliches Maß von Köhlerunglau-
bcn unsrer Zeit zu erfordern (II. 240). Bei einem Sommeraufenthalt zu
Sorrent auf der Rückreise besingt Stolberg bereits selbst ein Wunder, wie
nämlich die Richtung eines Lavastroms durch eine Procession abgeleitet wird
(IV. 299). Auch in Bezug auf die Klöster wird der Modegefinnung eines
leichtsinnige^ kurzsichtigen, hochfahrenden Jahrhunderts entgegengetreten.

"Wer um sich zu veredeln, wer um Gottes willen Selbstverleugnung"übet;
wer um das Unsichtbare zu ergreifen den heißesten Freuden des Lebens ent¬
sagt, wer bei Beobachtung strenger Vorschriften und Uebungen demüthig vor
Gott und freundlich gegen Nebenmenschen bleibt, der verdient unsre Hoch¬
achtung, unsre Ehrerbietung" (IV. 255). Mit dieser katholisirenden Richtung
geht sehr natürlich eine schiese und ungerechte Auffassung der griechischen Re¬
ligion Hand in Hand, "die durch der Götter Beispiel jedes Laster empfahl"
(III. 268) -- was ungefähr ebenso richtig ist, als wenn Seume von der Un-
sittlichkeit der Helden. Erzväter und Könige des alten Testaments die Demo¬
ralisation der Völker herleitete, die an die göttliche Inspiration des Bibeltextes
glauben. Trotz seiner überchristlichen und antirevolutionären Gesinnung schwärmte
Stolberg übrigens für die Schönheit des antiken Lebens, seine Kunst und Poesie,
und die republikanischen Tugenden der Griechen. Sein Buch ist mit enthu¬
siastischen Beschreibungen der Ueberreste des Alterthums und mit weitläufigen
Auszügen aus der alten Literatur angefüllt. Dies waren die Ansichten, die
er aus der damaligen Bildung und ganz besonders aus der Richtung der
ihm Nahestehenden sich angeeignet hatte; jenes angeborne, mit der Muttermilch
eingesogene Empfindungen, die scheinbar unterdrückt, nun durch den Eindruck
der Revolution mit neuer Stärke erwachten und in den Vordergrund seiner
Seele traten. Dasselbe hat sich 1848 bei Aristokraten, die bis dahin zu den


Grenzboten IV. 1858, 43

würdet über die Einfalt der rheinischen Landleute, wenn sie mit geselliger
Andacht Lieder zum Andenken eines frommen Mannes singen, ihr verstehet
es Mücken zu saigen und Kameele zu verschlucken, wenn ihr nur der mißleiteten
Andacht spottet, und keine Hohnlache sür den Fanatismus des Köhlerunglau¬
bens habt, keine für die Versammlung von Gesetzgebern, welche den Mann
durch ein Decret, durch eine Stelle im neuen Tempel aller Götter apo-
theosiret, den, als er lebte, ein Land nach dein andern ausspie, dem weder
Religion noch Sitte heilig war, der im Candide die Vorsehung Gottes lä¬
sterte, dem jede Tugend ein Gespött war!" (I. 27) Bei der Beschreibung des
Reliefs auf der Säule Marc Aurels, wo das verschmachtende Heer durch einen
Regenguß gerettet wird, erklärt er die Legende, daß dieses Wunder durch das Gebet
christlicher Soldaten bewirkt sei, sür ebenso glaubwürdig, als eine andre Legende,
daß Kaiser Julian an dem Wiederbau des Tempels zu Jerusalem durch ein
übernatürliches Ereigniß verhindert worden. Diese Geschichten zu bezweifeln
oder natürlich auszulegen, scheint ihm ein ziemliches Maß von Köhlerunglau-
bcn unsrer Zeit zu erfordern (II. 240). Bei einem Sommeraufenthalt zu
Sorrent auf der Rückreise besingt Stolberg bereits selbst ein Wunder, wie
nämlich die Richtung eines Lavastroms durch eine Procession abgeleitet wird
(IV. 299). Auch in Bezug auf die Klöster wird der Modegefinnung eines
leichtsinnige^ kurzsichtigen, hochfahrenden Jahrhunderts entgegengetreten.

„Wer um sich zu veredeln, wer um Gottes willen Selbstverleugnung«übet;
wer um das Unsichtbare zu ergreifen den heißesten Freuden des Lebens ent¬
sagt, wer bei Beobachtung strenger Vorschriften und Uebungen demüthig vor
Gott und freundlich gegen Nebenmenschen bleibt, der verdient unsre Hoch¬
achtung, unsre Ehrerbietung" (IV. 255). Mit dieser katholisirenden Richtung
geht sehr natürlich eine schiese und ungerechte Auffassung der griechischen Re¬
ligion Hand in Hand, „die durch der Götter Beispiel jedes Laster empfahl"
(III. 268) — was ungefähr ebenso richtig ist, als wenn Seume von der Un-
sittlichkeit der Helden. Erzväter und Könige des alten Testaments die Demo¬
ralisation der Völker herleitete, die an die göttliche Inspiration des Bibeltextes
glauben. Trotz seiner überchristlichen und antirevolutionären Gesinnung schwärmte
Stolberg übrigens für die Schönheit des antiken Lebens, seine Kunst und Poesie,
und die republikanischen Tugenden der Griechen. Sein Buch ist mit enthu¬
siastischen Beschreibungen der Ueberreste des Alterthums und mit weitläufigen
Auszügen aus der alten Literatur angefüllt. Dies waren die Ansichten, die
er aus der damaligen Bildung und ganz besonders aus der Richtung der
ihm Nahestehenden sich angeeignet hatte; jenes angeborne, mit der Muttermilch
eingesogene Empfindungen, die scheinbar unterdrückt, nun durch den Eindruck
der Revolution mit neuer Stärke erwachten und in den Vordergrund seiner
Seele traten. Dasselbe hat sich 1848 bei Aristokraten, die bis dahin zu den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/345>, abgerufen am 05.07.2024.