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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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hat. als die dort unten gebräuchliche. Und das ist in einem Lande, wo das
eheliche Band nur für begüterte Personen erreichbar ist, begreiflich genug.

In der That hat die Armuth hier fast niemals Aussicht bei jungen Jah¬
ren heirathen zu tonnen. Der Lohn eines Holzknechts reicht eben hin. ihn in
heilen Kleidern zu halten und für die immer durstige Kehle noch ein paar
Sonntagsrausche übrigzulassen. Nicht besser steht sich der Forstknecht oder
Jäger. Kaum daß die Arbeiter in den Eisenschmelzen sich zu einer Art Selbst-^
Ständigkeit durchhelfen. Selbst der "Mähr" eines Baucrhofs kann mit seinen
fünf Gulden Monatslohn, dem üblichen Hemd und dem schweren Paar Bund¬
schuhe uicht eben große Sprünge machen. Sie alle, mit wenigen Ausnahmen,
werden deshalb in wechselnden Verhältnissen, denen die Weihe der Kirche und
die Heiligung der gesetzlichen Anerkennung vorenthalten wurde, alt und grau.
Wo aber eine Sitte, und sei es selbst eine unbezweif/lbare Unsitte, diese Wur¬
zln schlägt, da hat sie durch ihre Allgemeinheit schon eine Scheinberechtigung
gewonnen, und eine laxe Auffassung des einmal Unvermeidlichen tritt bald
genug um die Stelle des richtigen Empfindens. Fast jede Hausfrau fügt sich
in die Nothwendigkeit, ihren Dienstleuten zu gewissen Stunden nicht strenge
nachzuschauen. Sie konnte sich künftig selbst bedienen, wollte sie nicht fünfe
gerade sein lassen. Eine Menge Ziehkinder, welche aller Orten untergebracht
sind, die Folge dieser verschrobenen Zustände, wachsen ohne Vater und Mutter
auf und bilden die natürliche Pflanzschule für die immer weitere Ausbreitung
solcher launenhaften Bruchtheile des Familienlebens. Uebereinstimmend mit
der milden Beurtheilung dieser Verhältnisse, findet man den freundlichen Ge¬
brauch, sich solcher armen Kinder anzunehmen, wenn sie jemandem heimlich
zugetragen werden, und sie nicht aus Findelhaus abzuliefern. Dre zahlreichen
Fehlgeburten aber und die große Menge der Todesfälle eben unter den Kin¬
dern der dienenden Classe beweisen zur Genüge, wie wenig selbst der gute
Wille der Begüterten Mißstände so folgenschwerer Art unschädlich zu machen
un Stande ist, und auf welche Abwege zu Zeiten die Scheu vor den Kosten
und Opfern, mehr sast noch als vor dem Bekanntwerden, führen mag.

Es wird hier nicht ohne Interesse sein, die statistischen Quellen reden zu
lassen, so weit sie uns eben zur Hand sind, und wie,sich nach ihnen die ein¬
schlagenden Verhältnisse in sämmtlichen Provinzen des östreichischen Kaiser-
staats") einer Vergleichung darbieten. Eine eingehendere Zusammenstellung
aller, bis jetzt uns nur in unvollkommenen Rubriken vorliegenden Merkmale
der Sittlichkeits- und Erwerbsvcrhältnisse wäre eine Arbeit, welche von gro¬
bem Nutzen sein könnte. Alles Predigen von den Kanzeln, alles Ausfragen
und Schelten in den Beichtstühlen, alles Missionsausschreibcn und Processions-



') Das Kcnscrthum Oestreich, von Dr. Ad. Schmidt u. Prof. W. F. Warhanek. Wien 1857.
Grenzboten IV. 1S5L. 4

hat. als die dort unten gebräuchliche. Und das ist in einem Lande, wo das
eheliche Band nur für begüterte Personen erreichbar ist, begreiflich genug.

In der That hat die Armuth hier fast niemals Aussicht bei jungen Jah¬
ren heirathen zu tonnen. Der Lohn eines Holzknechts reicht eben hin. ihn in
heilen Kleidern zu halten und für die immer durstige Kehle noch ein paar
Sonntagsrausche übrigzulassen. Nicht besser steht sich der Forstknecht oder
Jäger. Kaum daß die Arbeiter in den Eisenschmelzen sich zu einer Art Selbst-^
Ständigkeit durchhelfen. Selbst der „Mähr" eines Baucrhofs kann mit seinen
fünf Gulden Monatslohn, dem üblichen Hemd und dem schweren Paar Bund¬
schuhe uicht eben große Sprünge machen. Sie alle, mit wenigen Ausnahmen,
werden deshalb in wechselnden Verhältnissen, denen die Weihe der Kirche und
die Heiligung der gesetzlichen Anerkennung vorenthalten wurde, alt und grau.
Wo aber eine Sitte, und sei es selbst eine unbezweif/lbare Unsitte, diese Wur¬
zln schlägt, da hat sie durch ihre Allgemeinheit schon eine Scheinberechtigung
gewonnen, und eine laxe Auffassung des einmal Unvermeidlichen tritt bald
genug um die Stelle des richtigen Empfindens. Fast jede Hausfrau fügt sich
in die Nothwendigkeit, ihren Dienstleuten zu gewissen Stunden nicht strenge
nachzuschauen. Sie konnte sich künftig selbst bedienen, wollte sie nicht fünfe
gerade sein lassen. Eine Menge Ziehkinder, welche aller Orten untergebracht
sind, die Folge dieser verschrobenen Zustände, wachsen ohne Vater und Mutter
auf und bilden die natürliche Pflanzschule für die immer weitere Ausbreitung
solcher launenhaften Bruchtheile des Familienlebens. Uebereinstimmend mit
der milden Beurtheilung dieser Verhältnisse, findet man den freundlichen Ge¬
brauch, sich solcher armen Kinder anzunehmen, wenn sie jemandem heimlich
zugetragen werden, und sie nicht aus Findelhaus abzuliefern. Dre zahlreichen
Fehlgeburten aber und die große Menge der Todesfälle eben unter den Kin¬
dern der dienenden Classe beweisen zur Genüge, wie wenig selbst der gute
Wille der Begüterten Mißstände so folgenschwerer Art unschädlich zu machen
un Stande ist, und auf welche Abwege zu Zeiten die Scheu vor den Kosten
und Opfern, mehr sast noch als vor dem Bekanntwerden, führen mag.

Es wird hier nicht ohne Interesse sein, die statistischen Quellen reden zu
lassen, so weit sie uns eben zur Hand sind, und wie,sich nach ihnen die ein¬
schlagenden Verhältnisse in sämmtlichen Provinzen des östreichischen Kaiser-
staats") einer Vergleichung darbieten. Eine eingehendere Zusammenstellung
aller, bis jetzt uns nur in unvollkommenen Rubriken vorliegenden Merkmale
der Sittlichkeits- und Erwerbsvcrhältnisse wäre eine Arbeit, welche von gro¬
bem Nutzen sein könnte. Alles Predigen von den Kanzeln, alles Ausfragen
und Schelten in den Beichtstühlen, alles Missionsausschreibcn und Processions-



') Das Kcnscrthum Oestreich, von Dr. Ad. Schmidt u. Prof. W. F. Warhanek. Wien 1857.
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[0033] hat. als die dort unten gebräuchliche. Und das ist in einem Lande, wo das eheliche Band nur für begüterte Personen erreichbar ist, begreiflich genug. In der That hat die Armuth hier fast niemals Aussicht bei jungen Jah¬ ren heirathen zu tonnen. Der Lohn eines Holzknechts reicht eben hin. ihn in heilen Kleidern zu halten und für die immer durstige Kehle noch ein paar Sonntagsrausche übrigzulassen. Nicht besser steht sich der Forstknecht oder Jäger. Kaum daß die Arbeiter in den Eisenschmelzen sich zu einer Art Selbst-^ Ständigkeit durchhelfen. Selbst der „Mähr" eines Baucrhofs kann mit seinen fünf Gulden Monatslohn, dem üblichen Hemd und dem schweren Paar Bund¬ schuhe uicht eben große Sprünge machen. Sie alle, mit wenigen Ausnahmen, werden deshalb in wechselnden Verhältnissen, denen die Weihe der Kirche und die Heiligung der gesetzlichen Anerkennung vorenthalten wurde, alt und grau. Wo aber eine Sitte, und sei es selbst eine unbezweif/lbare Unsitte, diese Wur¬ zln schlägt, da hat sie durch ihre Allgemeinheit schon eine Scheinberechtigung gewonnen, und eine laxe Auffassung des einmal Unvermeidlichen tritt bald genug um die Stelle des richtigen Empfindens. Fast jede Hausfrau fügt sich in die Nothwendigkeit, ihren Dienstleuten zu gewissen Stunden nicht strenge nachzuschauen. Sie konnte sich künftig selbst bedienen, wollte sie nicht fünfe gerade sein lassen. Eine Menge Ziehkinder, welche aller Orten untergebracht sind, die Folge dieser verschrobenen Zustände, wachsen ohne Vater und Mutter auf und bilden die natürliche Pflanzschule für die immer weitere Ausbreitung solcher launenhaften Bruchtheile des Familienlebens. Uebereinstimmend mit der milden Beurtheilung dieser Verhältnisse, findet man den freundlichen Ge¬ brauch, sich solcher armen Kinder anzunehmen, wenn sie jemandem heimlich zugetragen werden, und sie nicht aus Findelhaus abzuliefern. Dre zahlreichen Fehlgeburten aber und die große Menge der Todesfälle eben unter den Kin¬ dern der dienenden Classe beweisen zur Genüge, wie wenig selbst der gute Wille der Begüterten Mißstände so folgenschwerer Art unschädlich zu machen un Stande ist, und auf welche Abwege zu Zeiten die Scheu vor den Kosten und Opfern, mehr sast noch als vor dem Bekanntwerden, führen mag. Es wird hier nicht ohne Interesse sein, die statistischen Quellen reden zu lassen, so weit sie uns eben zur Hand sind, und wie,sich nach ihnen die ein¬ schlagenden Verhältnisse in sämmtlichen Provinzen des östreichischen Kaiser- staats") einer Vergleichung darbieten. Eine eingehendere Zusammenstellung aller, bis jetzt uns nur in unvollkommenen Rubriken vorliegenden Merkmale der Sittlichkeits- und Erwerbsvcrhältnisse wäre eine Arbeit, welche von gro¬ bem Nutzen sein könnte. Alles Predigen von den Kanzeln, alles Ausfragen und Schelten in den Beichtstühlen, alles Missionsausschreibcn und Processions- ') Das Kcnscrthum Oestreich, von Dr. Ad. Schmidt u. Prof. W. F. Warhanek. Wien 1857. Grenzboten IV. 1S5L. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/33>, abgerufen am 05.07.2024.