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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Entzückens, daß der Wunsch seines Lebens nun endlich erfüllt war, Worte zu
leihen. Die nähere Umgegend von Rom sah er oft und gründlich, die ent¬
ferntere gar nicht, er kam weder in die abgelegenem Gebirgsstädte, noch an
das latinische Ufer; ebenso' sah er um Neapel mit Ausnahme von Pnstum
nur das Nächste. Desto ausgedehnter war seine Reise in Sicilien, wo er mit
Ausnahme von Syrakus alle bedeutendem Punkte berührte, Italien ohne
Sicilien machte ihm kein Bild in der Seele. "Für meine Sinnesart", sagte er,
(23,275) "ist diese Reise heilsam, ja nothwendig. Sicilien deutet mir nach
Asien und Afrika, und auf dem wundersamen Punkt, wohin so viele Stadien
der Weltgeschichte gerichtet sind, zu stehen ist keine Kleinigkeit." Doch in der
That haben ihn historische Erinnerungen dort so wenig als sonst beschäftigt,
es war vielmehr der exotische Charakter der Vegetation, die Wunder des Aetna,
die insularische Abgeschlossenheit und die griechischen Bautrümmer, die seine
ganze Aufmerksamkeit dort in Anspruch nahmen, und der Wunsch, durch diese
Eindrücke die Reihe der geschauten Bilder zu vervollständigen und abzuschlie¬
ßen war es, der ihn nach Sicilien zog. Mit der Abreise von Rom schließt
sein Bericht, und er hat offenbar nach dieser Trennung ebenso wenig Samm¬
lung gesunden, die Lücken seiner Reise auszufüllen, als bevor er Rom betrat.

Es ist bekannt, wie wenig Sinn Goethe für alles Geschichtliche hatte, aber
dieser Mangel an Interesse tritt nirgend so hervor, wie in Italien, wo man sich
auf Schritt und Tritt auf die Vergangenheit hingewiesen fühlt und grade
die historischen Erinnerungen überall belebt und aufgefrischt werden, die uns
unsre Erziehung am tiefsten eingeprägt hat. Aber das Alterthum beschäftigte
ihn nur als die Zeit, die das Höchste in den Künsten hervorgebracht hatte,
das Mittelalter und die neuere Zeit gar nicht. Ihm war es durchaus zu¬
wider, das Gegenwärtige mit dem Vergangenen zu vermischen, und das Her¬
vorrufen abgeschiedener Gespenster fatal. Als ihm sein Führer bei Palermo
von Schlachten erzählen wollte, die an dieser Stelle geschlagen worden, ver¬
wies er es ihm: "Es sei schlimm genug, daß von Zeit zu Zeit die Saaten,
wo nicht immer von Elephanten, doch von Pferden und Menschen zerstampft
werden müßten. Man solle wenigstens die Einbildungskraft nicht mit solchem
Nachgctümmel aus ihrem friedlichen Traume schrecken" (23, 288). Er, der überall
bemüht war, sich von den geologischen Processen Rechenschaft zu geben, die
den Gegenden ihre Gestalt gegeben, fragte nie nach der Entwicklung und Folge
der Culturpcrioden, die eine nach der andern dem Boden ihr Gepräge auf¬
gedrückt haben. In Sicilien, wo Griechen. Römer, Mauren und Normannen
bedeutende Neste ihres Daseins zurückgelassen haben, die den Wanderer drin¬
gend auffordern, sich die verschiedenen Weltalter herauszurufen, hat Goethe
eine solche Nöthigung nicht empfunden; es findet sich nicht einmal ein Wort
über die so höchst merkwürdigen Bauten der Normannen und Sarazenen in


Entzückens, daß der Wunsch seines Lebens nun endlich erfüllt war, Worte zu
leihen. Die nähere Umgegend von Rom sah er oft und gründlich, die ent¬
ferntere gar nicht, er kam weder in die abgelegenem Gebirgsstädte, noch an
das latinische Ufer; ebenso' sah er um Neapel mit Ausnahme von Pnstum
nur das Nächste. Desto ausgedehnter war seine Reise in Sicilien, wo er mit
Ausnahme von Syrakus alle bedeutendem Punkte berührte, Italien ohne
Sicilien machte ihm kein Bild in der Seele. „Für meine Sinnesart", sagte er,
(23,275) „ist diese Reise heilsam, ja nothwendig. Sicilien deutet mir nach
Asien und Afrika, und auf dem wundersamen Punkt, wohin so viele Stadien
der Weltgeschichte gerichtet sind, zu stehen ist keine Kleinigkeit." Doch in der
That haben ihn historische Erinnerungen dort so wenig als sonst beschäftigt,
es war vielmehr der exotische Charakter der Vegetation, die Wunder des Aetna,
die insularische Abgeschlossenheit und die griechischen Bautrümmer, die seine
ganze Aufmerksamkeit dort in Anspruch nahmen, und der Wunsch, durch diese
Eindrücke die Reihe der geschauten Bilder zu vervollständigen und abzuschlie¬
ßen war es, der ihn nach Sicilien zog. Mit der Abreise von Rom schließt
sein Bericht, und er hat offenbar nach dieser Trennung ebenso wenig Samm¬
lung gesunden, die Lücken seiner Reise auszufüllen, als bevor er Rom betrat.

Es ist bekannt, wie wenig Sinn Goethe für alles Geschichtliche hatte, aber
dieser Mangel an Interesse tritt nirgend so hervor, wie in Italien, wo man sich
auf Schritt und Tritt auf die Vergangenheit hingewiesen fühlt und grade
die historischen Erinnerungen überall belebt und aufgefrischt werden, die uns
unsre Erziehung am tiefsten eingeprägt hat. Aber das Alterthum beschäftigte
ihn nur als die Zeit, die das Höchste in den Künsten hervorgebracht hatte,
das Mittelalter und die neuere Zeit gar nicht. Ihm war es durchaus zu¬
wider, das Gegenwärtige mit dem Vergangenen zu vermischen, und das Her¬
vorrufen abgeschiedener Gespenster fatal. Als ihm sein Führer bei Palermo
von Schlachten erzählen wollte, die an dieser Stelle geschlagen worden, ver¬
wies er es ihm: „Es sei schlimm genug, daß von Zeit zu Zeit die Saaten,
wo nicht immer von Elephanten, doch von Pferden und Menschen zerstampft
werden müßten. Man solle wenigstens die Einbildungskraft nicht mit solchem
Nachgctümmel aus ihrem friedlichen Traume schrecken" (23, 288). Er, der überall
bemüht war, sich von den geologischen Processen Rechenschaft zu geben, die
den Gegenden ihre Gestalt gegeben, fragte nie nach der Entwicklung und Folge
der Culturpcrioden, die eine nach der andern dem Boden ihr Gepräge auf¬
gedrückt haben. In Sicilien, wo Griechen. Römer, Mauren und Normannen
bedeutende Neste ihres Daseins zurückgelassen haben, die den Wanderer drin¬
gend auffordern, sich die verschiedenen Weltalter herauszurufen, hat Goethe
eine solche Nöthigung nicht empfunden; es findet sich nicht einmal ein Wort
über die so höchst merkwürdigen Bauten der Normannen und Sarazenen in


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[0308] Entzückens, daß der Wunsch seines Lebens nun endlich erfüllt war, Worte zu leihen. Die nähere Umgegend von Rom sah er oft und gründlich, die ent¬ ferntere gar nicht, er kam weder in die abgelegenem Gebirgsstädte, noch an das latinische Ufer; ebenso' sah er um Neapel mit Ausnahme von Pnstum nur das Nächste. Desto ausgedehnter war seine Reise in Sicilien, wo er mit Ausnahme von Syrakus alle bedeutendem Punkte berührte, Italien ohne Sicilien machte ihm kein Bild in der Seele. „Für meine Sinnesart", sagte er, (23,275) „ist diese Reise heilsam, ja nothwendig. Sicilien deutet mir nach Asien und Afrika, und auf dem wundersamen Punkt, wohin so viele Stadien der Weltgeschichte gerichtet sind, zu stehen ist keine Kleinigkeit." Doch in der That haben ihn historische Erinnerungen dort so wenig als sonst beschäftigt, es war vielmehr der exotische Charakter der Vegetation, die Wunder des Aetna, die insularische Abgeschlossenheit und die griechischen Bautrümmer, die seine ganze Aufmerksamkeit dort in Anspruch nahmen, und der Wunsch, durch diese Eindrücke die Reihe der geschauten Bilder zu vervollständigen und abzuschlie¬ ßen war es, der ihn nach Sicilien zog. Mit der Abreise von Rom schließt sein Bericht, und er hat offenbar nach dieser Trennung ebenso wenig Samm¬ lung gesunden, die Lücken seiner Reise auszufüllen, als bevor er Rom betrat. Es ist bekannt, wie wenig Sinn Goethe für alles Geschichtliche hatte, aber dieser Mangel an Interesse tritt nirgend so hervor, wie in Italien, wo man sich auf Schritt und Tritt auf die Vergangenheit hingewiesen fühlt und grade die historischen Erinnerungen überall belebt und aufgefrischt werden, die uns unsre Erziehung am tiefsten eingeprägt hat. Aber das Alterthum beschäftigte ihn nur als die Zeit, die das Höchste in den Künsten hervorgebracht hatte, das Mittelalter und die neuere Zeit gar nicht. Ihm war es durchaus zu¬ wider, das Gegenwärtige mit dem Vergangenen zu vermischen, und das Her¬ vorrufen abgeschiedener Gespenster fatal. Als ihm sein Führer bei Palermo von Schlachten erzählen wollte, die an dieser Stelle geschlagen worden, ver¬ wies er es ihm: „Es sei schlimm genug, daß von Zeit zu Zeit die Saaten, wo nicht immer von Elephanten, doch von Pferden und Menschen zerstampft werden müßten. Man solle wenigstens die Einbildungskraft nicht mit solchem Nachgctümmel aus ihrem friedlichen Traume schrecken" (23, 288). Er, der überall bemüht war, sich von den geologischen Processen Rechenschaft zu geben, die den Gegenden ihre Gestalt gegeben, fragte nie nach der Entwicklung und Folge der Culturpcrioden, die eine nach der andern dem Boden ihr Gepräge auf¬ gedrückt haben. In Sicilien, wo Griechen. Römer, Mauren und Normannen bedeutende Neste ihres Daseins zurückgelassen haben, die den Wanderer drin¬ gend auffordern, sich die verschiedenen Weltalter herauszurufen, hat Goethe eine solche Nöthigung nicht empfunden; es findet sich nicht einmal ein Wort über die so höchst merkwürdigen Bauten der Normannen und Sarazenen in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/308>, abgerufen am 05.07.2024.