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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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so steht Carlyle auf einer viel höhern Stufe der Bildung. Bei dem gewöhn¬
lichen Ironiker findet man fast durchweg Schadenfreude, nicht grade Freude
am Schlechten selbst, aber Freude an der Darstellung des Schlechten. Von
diesem Fehler ist Carlyle ebenso frei wie seine Schule. Im Gegentheil zeigt
sich bei ihnen durchweg eine überquellende Menschenliebe und ein Sinn für
das Gute, der sich nicht verdrießen läßt, auch die unscheinbarsten Gegenstände
zu durchwühlen, um die Spuren desselben mit Freude aus dem Schutt her-
vorzuziehn. Aber eins geht den andern ab. was Carlyle im hohen Maß
besitzt: der Sinn für das Große. Thackeray geht in der Virtuosität seiner
Analyse so weit, er findet die guten und bösen Eigenschaften der Menschen so
unauflösbar ineinander verstrickt, daß die .feste individuelle Gestalt verloren
geht, daß er mit einem beständigen wehmüthigen Lächeln das Große herab¬
drückt und das Kleine erhöht. Anders bei Carlyle. Sein Gefühl fürs Große
geht nicht selten in Leidenschaft über, und wenn er den Cultus des Genius
predigt, so ist das bei ihm nicht Dogma, sondern Jnstinct. Er läßt sich
durch die Widersprüche einer mächtigen Natur nicht irren, er weiß sehr wohl
die Reflexion, aus der geniale Menschen ihre Handlungsweise vor ihrer an¬
gelernten Moral zu rechtfertigen suchen, von ihrem genialen Jnstinct zu unter¬
scheiden. Es irrt ihn nicht, wenn sie mit einer gewissen Heftigkeit Maximen
vertreten, die ihren Handlungsweisen entgegengesetzt sind; wenn z. B. Crom-
well den einen Tag in seinen Reden sich ganz in den Willen Gottes ergibt,
den andern Tag mit schärfster Weltklugheit und ohne alle Rücksicht auf den
Codex der Moral seine Handlungsweise einrichtet, es irrt ihn nickt, wenn
Friedrich in seinen Elegien das Glück des Friedens preist, und sich mit wil¬
der Kampflust in den Krieg stürzt, wenn er den Macchiavell widerlegt und
in seiner Politik Grundsätze befolgt, die denen des Florentiners wenigstens
nicht widersprechen. Er findet den Kern der Wahrheit nach beiden Seiten
heraus, denn er weiß, daß seine Helden nicht systematische Philosophen, son¬
dern concrete Naturen sind, die hinter den anscheinenden Widersprüchen einen
sehr festen energischen Charakter verbergen.

Von diesem Standpunkt aufgefaßt, ist auch das vorliegende Buch eine
sehr erhebende Lectüre. Wenn Macaulay schon aus Friedrich dem Großen
ein Zerrbild macht, so erscheint bei ihm Friedrich Wilhelm I. grcidezu als
Monstrum, als ein Ungeheuer, sür welches sich in der menschlichen Natur
gar keine Analogien vorfinden. Für den Augenblick hat er ganz vergessen, daß
sich die Zeiten mit den'Sitten ändern, daß man in der Periode Friedrich
Wilhelms I. rascher mit dem Stock bei der Hand war, als 150 Jahre später,
und daß es an willkürlichen Todesurtheilen damals auch anderwärts in Deutsch¬
land nicht gefehlt hat. Carlyle erzählt von dem König dieselben Geschichten
wie Macaulay, er erzählt sie noch vollständiger und eindringender, und doch


, - 37*,

so steht Carlyle auf einer viel höhern Stufe der Bildung. Bei dem gewöhn¬
lichen Ironiker findet man fast durchweg Schadenfreude, nicht grade Freude
am Schlechten selbst, aber Freude an der Darstellung des Schlechten. Von
diesem Fehler ist Carlyle ebenso frei wie seine Schule. Im Gegentheil zeigt
sich bei ihnen durchweg eine überquellende Menschenliebe und ein Sinn für
das Gute, der sich nicht verdrießen läßt, auch die unscheinbarsten Gegenstände
zu durchwühlen, um die Spuren desselben mit Freude aus dem Schutt her-
vorzuziehn. Aber eins geht den andern ab. was Carlyle im hohen Maß
besitzt: der Sinn für das Große. Thackeray geht in der Virtuosität seiner
Analyse so weit, er findet die guten und bösen Eigenschaften der Menschen so
unauflösbar ineinander verstrickt, daß die .feste individuelle Gestalt verloren
geht, daß er mit einem beständigen wehmüthigen Lächeln das Große herab¬
drückt und das Kleine erhöht. Anders bei Carlyle. Sein Gefühl fürs Große
geht nicht selten in Leidenschaft über, und wenn er den Cultus des Genius
predigt, so ist das bei ihm nicht Dogma, sondern Jnstinct. Er läßt sich
durch die Widersprüche einer mächtigen Natur nicht irren, er weiß sehr wohl
die Reflexion, aus der geniale Menschen ihre Handlungsweise vor ihrer an¬
gelernten Moral zu rechtfertigen suchen, von ihrem genialen Jnstinct zu unter¬
scheiden. Es irrt ihn nicht, wenn sie mit einer gewissen Heftigkeit Maximen
vertreten, die ihren Handlungsweisen entgegengesetzt sind; wenn z. B. Crom-
well den einen Tag in seinen Reden sich ganz in den Willen Gottes ergibt,
den andern Tag mit schärfster Weltklugheit und ohne alle Rücksicht auf den
Codex der Moral seine Handlungsweise einrichtet, es irrt ihn nickt, wenn
Friedrich in seinen Elegien das Glück des Friedens preist, und sich mit wil¬
der Kampflust in den Krieg stürzt, wenn er den Macchiavell widerlegt und
in seiner Politik Grundsätze befolgt, die denen des Florentiners wenigstens
nicht widersprechen. Er findet den Kern der Wahrheit nach beiden Seiten
heraus, denn er weiß, daß seine Helden nicht systematische Philosophen, son¬
dern concrete Naturen sind, die hinter den anscheinenden Widersprüchen einen
sehr festen energischen Charakter verbergen.

Von diesem Standpunkt aufgefaßt, ist auch das vorliegende Buch eine
sehr erhebende Lectüre. Wenn Macaulay schon aus Friedrich dem Großen
ein Zerrbild macht, so erscheint bei ihm Friedrich Wilhelm I. grcidezu als
Monstrum, als ein Ungeheuer, sür welches sich in der menschlichen Natur
gar keine Analogien vorfinden. Für den Augenblick hat er ganz vergessen, daß
sich die Zeiten mit den'Sitten ändern, daß man in der Periode Friedrich
Wilhelms I. rascher mit dem Stock bei der Hand war, als 150 Jahre später,
und daß es an willkürlichen Todesurtheilen damals auch anderwärts in Deutsch¬
land nicht gefehlt hat. Carlyle erzählt von dem König dieselben Geschichten
wie Macaulay, er erzählt sie noch vollständiger und eindringender, und doch


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[0299] so steht Carlyle auf einer viel höhern Stufe der Bildung. Bei dem gewöhn¬ lichen Ironiker findet man fast durchweg Schadenfreude, nicht grade Freude am Schlechten selbst, aber Freude an der Darstellung des Schlechten. Von diesem Fehler ist Carlyle ebenso frei wie seine Schule. Im Gegentheil zeigt sich bei ihnen durchweg eine überquellende Menschenliebe und ein Sinn für das Gute, der sich nicht verdrießen läßt, auch die unscheinbarsten Gegenstände zu durchwühlen, um die Spuren desselben mit Freude aus dem Schutt her- vorzuziehn. Aber eins geht den andern ab. was Carlyle im hohen Maß besitzt: der Sinn für das Große. Thackeray geht in der Virtuosität seiner Analyse so weit, er findet die guten und bösen Eigenschaften der Menschen so unauflösbar ineinander verstrickt, daß die .feste individuelle Gestalt verloren geht, daß er mit einem beständigen wehmüthigen Lächeln das Große herab¬ drückt und das Kleine erhöht. Anders bei Carlyle. Sein Gefühl fürs Große geht nicht selten in Leidenschaft über, und wenn er den Cultus des Genius predigt, so ist das bei ihm nicht Dogma, sondern Jnstinct. Er läßt sich durch die Widersprüche einer mächtigen Natur nicht irren, er weiß sehr wohl die Reflexion, aus der geniale Menschen ihre Handlungsweise vor ihrer an¬ gelernten Moral zu rechtfertigen suchen, von ihrem genialen Jnstinct zu unter¬ scheiden. Es irrt ihn nicht, wenn sie mit einer gewissen Heftigkeit Maximen vertreten, die ihren Handlungsweisen entgegengesetzt sind; wenn z. B. Crom- well den einen Tag in seinen Reden sich ganz in den Willen Gottes ergibt, den andern Tag mit schärfster Weltklugheit und ohne alle Rücksicht auf den Codex der Moral seine Handlungsweise einrichtet, es irrt ihn nickt, wenn Friedrich in seinen Elegien das Glück des Friedens preist, und sich mit wil¬ der Kampflust in den Krieg stürzt, wenn er den Macchiavell widerlegt und in seiner Politik Grundsätze befolgt, die denen des Florentiners wenigstens nicht widersprechen. Er findet den Kern der Wahrheit nach beiden Seiten heraus, denn er weiß, daß seine Helden nicht systematische Philosophen, son¬ dern concrete Naturen sind, die hinter den anscheinenden Widersprüchen einen sehr festen energischen Charakter verbergen. Von diesem Standpunkt aufgefaßt, ist auch das vorliegende Buch eine sehr erhebende Lectüre. Wenn Macaulay schon aus Friedrich dem Großen ein Zerrbild macht, so erscheint bei ihm Friedrich Wilhelm I. grcidezu als Monstrum, als ein Ungeheuer, sür welches sich in der menschlichen Natur gar keine Analogien vorfinden. Für den Augenblick hat er ganz vergessen, daß sich die Zeiten mit den'Sitten ändern, daß man in der Periode Friedrich Wilhelms I. rascher mit dem Stock bei der Hand war, als 150 Jahre später, und daß es an willkürlichen Todesurtheilen damals auch anderwärts in Deutsch¬ land nicht gefehlt hat. Carlyle erzählt von dem König dieselben Geschichten wie Macaulay, er erzählt sie noch vollständiger und eindringender, und doch , - 37*,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/299>, abgerufen am 05.07.2024.