Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.Sie gehorchten und warteten um so mehr, als die Spohn abermals einen Grenzboten IV. ISöL. 35
Sie gehorchten und warteten um so mehr, als die Spohn abermals einen Grenzboten IV. ISöL. 35
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0281" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/266090"/> <p xml:id="ID_743" prev="#ID_742" next="#ID_744"> Sie gehorchten und warteten um so mehr, als die Spohn abermals einen<lb/> Ruf von Gott gehört habe, daß erst des Nachts zwischen 2 und 3 Uhr ein<lb/> Zeichen am Himmel erscheinen werde; dann sollen sie abziehen; dann könne<lb/> sie 'die ganze russische Armee nicht aufhalten. Sie beteten die ganze Nacht;<lb/> allein das Zeichen blieb aus. „Und ich sage euch noch einmal," sagte Kreu-<lb/> zinger aus Elisabeththal, „so lange nicht Pharao Ja sagt, dürfen wir nicht<lb/> weg." Er wurde abermals als Ungläubiger ausgescholten. So verging auch<lb/> die Mittwoch. Da sagte Bäbele Spohn: „Morgen, am 2, Juni, werden<lb/> wir ganz gewiß abziehen." Es wurde abermals den ganzen Abend bis in<lb/> die Nacht hinein gebetet und gesungen. Vor Tagesanbruch versammelten sich<lb/> alle, unterredeten sich und packten auf. Um 8 Uhr Morgens erschienen sie<lb/> mitten auf dem Platz beim Thore in folgender Ordnung: „Voran die Braut<lb/> Christi, Bübele Spohn, ihr zur Seite die Gehilfinnen, die Kanker, die Braut¬<lb/> führerinnen der Braut Christi. Darnach kamen die Aeltesten, darunter<lb/> Palmer, die heiligsten neun Männer; darauf die andern Männer, endlich die<lb/> Weiber und kleinen Kinder, alle, selbst die Kinder, mit einem Tornister auf<lb/> dem Rücken; zuletzt folgten die Jünglinge, dann die Jungfrauen, welche beide<lb/> vor sich schwerbepackte Esel, jeder einen, trieben und auch Tornister auf dem<lb/> Rücken trugen. Endlich kam ein vierspänniger Wagen, auf dem die Gebrech¬<lb/> lichen und diejenigen saßen, die ihren Verstand im Separatismus vergrübelt<lb/> hatten. Nach einer Weile bewegte sich der Zug langsam dem Thore<lb/> zu. Die vor dem Thore aufgestellten Kosaken bekreuzigten sich: man<lb/> hatte ihnen durch einen Separatisten sagen lassen, sie brauchen keine Waffen,<lb/> ihr Widerstand werde gelähmt werden; denn die Separatisten werden un¬<lb/> sichtbar für sie aus dem Thore kommen oder die Kosaken werden, wenn sie<lb/> Gewalt brauchen sollten, todt zur Erde niederstürzen. Als sie so einige Schritte<lb/> gegangen, kam Collegienrath v. Kotzebue zur Spohn und fragte sie, wohin<lb/> sie wolle; dreimal fragte er sie und erhielt keine Antwort. Da gab er zwei<lb/> Kosaken den Befehl, sie aus dem Zuge zu heben und zu bewachen. Sie<lb/> wurde weggeführt, konnte aber vor Bangigkeit kein Wort mehr sprechen.<lb/> Endlich sollten sie die Kosaken binden, denn alle waren mit mehren Stricken ver¬<lb/> sehen. Da faltete sie ihre Hände über den Schmecrbauch und stieß einen<lb/> heftigen Seufzer aus> richtete die Augen starr gen Himmel und wurde leichen¬<lb/> blaß. Doch Herr v. Kotzebue ließ sie nicht binden, sondern sammt ihren Ge¬<lb/> hilfinnen unter Bedeckung in sein Quartier führen. Auch befahl er, dasselbe<lb/> mit den neun Männern zu thun. Dann sagte er ihnen, daß es unmöglich<lb/> sei, sie von hier abziehen zu lassen, bis Se. Majestät der Kaiser entschieden<lb/> habe, ob sie fort dürfen oder nicht; sie möchten sich daher so lange gedulden.<lb/> So wie aber die neun Männer in das Zimmer des Herrn v. Kotzebue traten,<lb/> siel die Spohn mit ihren Gehilfinnen auf ihr Angesicht zur Erde. Das tha-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. ISöL. 35</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0281]
Sie gehorchten und warteten um so mehr, als die Spohn abermals einen
Ruf von Gott gehört habe, daß erst des Nachts zwischen 2 und 3 Uhr ein
Zeichen am Himmel erscheinen werde; dann sollen sie abziehen; dann könne
sie 'die ganze russische Armee nicht aufhalten. Sie beteten die ganze Nacht;
allein das Zeichen blieb aus. „Und ich sage euch noch einmal," sagte Kreu-
zinger aus Elisabeththal, „so lange nicht Pharao Ja sagt, dürfen wir nicht
weg." Er wurde abermals als Ungläubiger ausgescholten. So verging auch
die Mittwoch. Da sagte Bäbele Spohn: „Morgen, am 2, Juni, werden
wir ganz gewiß abziehen." Es wurde abermals den ganzen Abend bis in
die Nacht hinein gebetet und gesungen. Vor Tagesanbruch versammelten sich
alle, unterredeten sich und packten auf. Um 8 Uhr Morgens erschienen sie
mitten auf dem Platz beim Thore in folgender Ordnung: „Voran die Braut
Christi, Bübele Spohn, ihr zur Seite die Gehilfinnen, die Kanker, die Braut¬
führerinnen der Braut Christi. Darnach kamen die Aeltesten, darunter
Palmer, die heiligsten neun Männer; darauf die andern Männer, endlich die
Weiber und kleinen Kinder, alle, selbst die Kinder, mit einem Tornister auf
dem Rücken; zuletzt folgten die Jünglinge, dann die Jungfrauen, welche beide
vor sich schwerbepackte Esel, jeder einen, trieben und auch Tornister auf dem
Rücken trugen. Endlich kam ein vierspänniger Wagen, auf dem die Gebrech¬
lichen und diejenigen saßen, die ihren Verstand im Separatismus vergrübelt
hatten. Nach einer Weile bewegte sich der Zug langsam dem Thore
zu. Die vor dem Thore aufgestellten Kosaken bekreuzigten sich: man
hatte ihnen durch einen Separatisten sagen lassen, sie brauchen keine Waffen,
ihr Widerstand werde gelähmt werden; denn die Separatisten werden un¬
sichtbar für sie aus dem Thore kommen oder die Kosaken werden, wenn sie
Gewalt brauchen sollten, todt zur Erde niederstürzen. Als sie so einige Schritte
gegangen, kam Collegienrath v. Kotzebue zur Spohn und fragte sie, wohin
sie wolle; dreimal fragte er sie und erhielt keine Antwort. Da gab er zwei
Kosaken den Befehl, sie aus dem Zuge zu heben und zu bewachen. Sie
wurde weggeführt, konnte aber vor Bangigkeit kein Wort mehr sprechen.
Endlich sollten sie die Kosaken binden, denn alle waren mit mehren Stricken ver¬
sehen. Da faltete sie ihre Hände über den Schmecrbauch und stieß einen
heftigen Seufzer aus> richtete die Augen starr gen Himmel und wurde leichen¬
blaß. Doch Herr v. Kotzebue ließ sie nicht binden, sondern sammt ihren Ge¬
hilfinnen unter Bedeckung in sein Quartier führen. Auch befahl er, dasselbe
mit den neun Männern zu thun. Dann sagte er ihnen, daß es unmöglich
sei, sie von hier abziehen zu lassen, bis Se. Majestät der Kaiser entschieden
habe, ob sie fort dürfen oder nicht; sie möchten sich daher so lange gedulden.
So wie aber die neun Männer in das Zimmer des Herrn v. Kotzebue traten,
siel die Spohn mit ihren Gehilfinnen auf ihr Angesicht zur Erde. Das tha-
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