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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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gab Veranlassung zu der Idee, daß man sie verfolge und Gott werde sein
Volk schon ausführen. Christus sage: "Lasset die Todten begraben!" aber
vor Ceremonien, Leichenreden, Glockengeläute, Singen und Beten dabeihabe
er Abscheu. Es circulirten unter ihnen Lieder und Gedichte über alles dieses.
Viele arbeiteten nur so viel, als für ihren nothdürftigsten Lebensunterhalt er¬
forderlich war, verschenkten alles, was entbehrlich schien und nur einen Schein
der Eitelkeit verbreiten konnte, reisten von einer Colonie zur andern, bekehrten
zu ihrem Glauben und bettelten. Wohin sie kamen, knieten sie nieder, be¬
teten, daß Gott sein Volk bald ausführen und ihren gefangenen Bruder be¬
freien möge. Ihre Betstunden waren etliche Mal in der Woche von elf bis
zwölf Uhr des Nachts, ebenso die Versammlungsstunden. Dies bedeutete,
sagten sie. daß sie in die Reinigung eingegangen seien. Die Gebete wurden
mit feierlichem Ernst und erhobener Stimm'le verrichtet, ja oft schrieen sie un¬
gemein in ihrem Eifer. Die Worte, welche sie bei jeder Begegnung im
Munde führten, waren:


Der Hceland werd bald komme
Und holt uns, seine Fromme,
Er wird uns führ" naus
Zu ihm ins Himmclshaus.
Ich glab, daß d' Obrigkeit
Uns vieles thut no z' toit
Se jogt uns aus n' Haus
Auf d' freie Felder naus
Doch zur wolle alles leida
Und elle Weltlust meida.

Die Purification der Separatisten erlitt aber einen Rückfall; da sie näm¬
lich schon heiratsfähige Kinder hatten und die Noth auf das höchste getrie¬
ben war, so gab es Debatten, die sehr heftig wurden und endlich einigten
sie sich, daß sie ihre Kinder taufen und confirmiren ließen, damit sie getraut
werden könnten und gingen aus der Reinigung heraus. Auch das Teusel-
cmstrciben hatte nichts geholfen, indem dadurch viele geheime Sünder ent¬
standen und hinsichtlich ihrer körperlichen sowol als geistigen Gesundheit in
Gefahr geriethen, so daß das Amt einschreiten mußte. Besonders waren die
Weiber energisch thätig, es dahin zu bringen, daß der Ehestand gestattet
werde und überschrien gewöhnlich in den Versammlungen die Männer, über
deren Heiligkeit sie oft Glossen machten, oft auch factische Gegenbeweise vor¬
trugen. Auch verschmähten sie, wenn ernsthafte Krankheitsfälle eintraten und
Gefahr drohte, nicht mehr ärztliche Hilfe. Endlich war der Schlüssel zu allem
gefunden. Nach großem nächtlichen Geschrei stand einer unter ihnen auf und
behauptete, jetzt, wo ihre Kinder bereits wissen, warum sie getauft werden,
sei es angezeigt, daß sie taufen und confirmiren lassen dürften, und was die


gab Veranlassung zu der Idee, daß man sie verfolge und Gott werde sein
Volk schon ausführen. Christus sage: „Lasset die Todten begraben!" aber
vor Ceremonien, Leichenreden, Glockengeläute, Singen und Beten dabeihabe
er Abscheu. Es circulirten unter ihnen Lieder und Gedichte über alles dieses.
Viele arbeiteten nur so viel, als für ihren nothdürftigsten Lebensunterhalt er¬
forderlich war, verschenkten alles, was entbehrlich schien und nur einen Schein
der Eitelkeit verbreiten konnte, reisten von einer Colonie zur andern, bekehrten
zu ihrem Glauben und bettelten. Wohin sie kamen, knieten sie nieder, be¬
teten, daß Gott sein Volk bald ausführen und ihren gefangenen Bruder be¬
freien möge. Ihre Betstunden waren etliche Mal in der Woche von elf bis
zwölf Uhr des Nachts, ebenso die Versammlungsstunden. Dies bedeutete,
sagten sie. daß sie in die Reinigung eingegangen seien. Die Gebete wurden
mit feierlichem Ernst und erhobener Stimm'le verrichtet, ja oft schrieen sie un¬
gemein in ihrem Eifer. Die Worte, welche sie bei jeder Begegnung im
Munde führten, waren:


Der Hceland werd bald komme
Und holt uns, seine Fromme,
Er wird uns führ« naus
Zu ihm ins Himmclshaus.
Ich glab, daß d' Obrigkeit
Uns vieles thut no z' toit
Se jogt uns aus n' Haus
Auf d' freie Felder naus
Doch zur wolle alles leida
Und elle Weltlust meida.

Die Purification der Separatisten erlitt aber einen Rückfall; da sie näm¬
lich schon heiratsfähige Kinder hatten und die Noth auf das höchste getrie¬
ben war, so gab es Debatten, die sehr heftig wurden und endlich einigten
sie sich, daß sie ihre Kinder taufen und confirmiren ließen, damit sie getraut
werden könnten und gingen aus der Reinigung heraus. Auch das Teusel-
cmstrciben hatte nichts geholfen, indem dadurch viele geheime Sünder ent¬
standen und hinsichtlich ihrer körperlichen sowol als geistigen Gesundheit in
Gefahr geriethen, so daß das Amt einschreiten mußte. Besonders waren die
Weiber energisch thätig, es dahin zu bringen, daß der Ehestand gestattet
werde und überschrien gewöhnlich in den Versammlungen die Männer, über
deren Heiligkeit sie oft Glossen machten, oft auch factische Gegenbeweise vor¬
trugen. Auch verschmähten sie, wenn ernsthafte Krankheitsfälle eintraten und
Gefahr drohte, nicht mehr ärztliche Hilfe. Endlich war der Schlüssel zu allem
gefunden. Nach großem nächtlichen Geschrei stand einer unter ihnen auf und
behauptete, jetzt, wo ihre Kinder bereits wissen, warum sie getauft werden,
sei es angezeigt, daß sie taufen und confirmiren lassen dürften, und was die


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[0276] gab Veranlassung zu der Idee, daß man sie verfolge und Gott werde sein Volk schon ausführen. Christus sage: „Lasset die Todten begraben!" aber vor Ceremonien, Leichenreden, Glockengeläute, Singen und Beten dabeihabe er Abscheu. Es circulirten unter ihnen Lieder und Gedichte über alles dieses. Viele arbeiteten nur so viel, als für ihren nothdürftigsten Lebensunterhalt er¬ forderlich war, verschenkten alles, was entbehrlich schien und nur einen Schein der Eitelkeit verbreiten konnte, reisten von einer Colonie zur andern, bekehrten zu ihrem Glauben und bettelten. Wohin sie kamen, knieten sie nieder, be¬ teten, daß Gott sein Volk bald ausführen und ihren gefangenen Bruder be¬ freien möge. Ihre Betstunden waren etliche Mal in der Woche von elf bis zwölf Uhr des Nachts, ebenso die Versammlungsstunden. Dies bedeutete, sagten sie. daß sie in die Reinigung eingegangen seien. Die Gebete wurden mit feierlichem Ernst und erhobener Stimm'le verrichtet, ja oft schrieen sie un¬ gemein in ihrem Eifer. Die Worte, welche sie bei jeder Begegnung im Munde führten, waren: Der Hceland werd bald komme Und holt uns, seine Fromme, Er wird uns führ« naus Zu ihm ins Himmclshaus. Ich glab, daß d' Obrigkeit Uns vieles thut no z' toit Se jogt uns aus n' Haus Auf d' freie Felder naus Doch zur wolle alles leida Und elle Weltlust meida. Die Purification der Separatisten erlitt aber einen Rückfall; da sie näm¬ lich schon heiratsfähige Kinder hatten und die Noth auf das höchste getrie¬ ben war, so gab es Debatten, die sehr heftig wurden und endlich einigten sie sich, daß sie ihre Kinder taufen und confirmiren ließen, damit sie getraut werden könnten und gingen aus der Reinigung heraus. Auch das Teusel- cmstrciben hatte nichts geholfen, indem dadurch viele geheime Sünder ent¬ standen und hinsichtlich ihrer körperlichen sowol als geistigen Gesundheit in Gefahr geriethen, so daß das Amt einschreiten mußte. Besonders waren die Weiber energisch thätig, es dahin zu bringen, daß der Ehestand gestattet werde und überschrien gewöhnlich in den Versammlungen die Männer, über deren Heiligkeit sie oft Glossen machten, oft auch factische Gegenbeweise vor¬ trugen. Auch verschmähten sie, wenn ernsthafte Krankheitsfälle eintraten und Gefahr drohte, nicht mehr ärztliche Hilfe. Endlich war der Schlüssel zu allem gefunden. Nach großem nächtlichen Geschrei stand einer unter ihnen auf und behauptete, jetzt, wo ihre Kinder bereits wissen, warum sie getauft werden, sei es angezeigt, daß sie taufen und confirmiren lassen dürften, und was die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/276>, abgerufen am 26.07.2024.