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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Rückblick aus die nächste Vergangenheit Ungarns.

Zehn Jahre sind verflossen seit der Eroberung Wiens durch die Kroaten,
neun Jahre seit der Kapitulation Komorns, dieser letzten Scene des ungarischen
Revolutionsdramas. Die Gefallenen sind zum großen Theil vergessen, die Ein¬
gekerkerten fast alle in Freiheit gesetzt, die Verbannten in bedeutender Anzahl
zurückgekehrt; der Belagerungszustand hat in Ungarn wie in den übrigen Theilen
des großen Kaiserstaates aufgehört, und mit dem Aufheben des Paßwesens
haben Spionage und Angeberei, diese unzuverlässigsten und dennoch zumeist
gehütschelten Diener der Reaction, den Laufpaß bekommen. Die Gemüther sind,
wenn auch nicht beruhigt, so doch ruhig; Erzherzog Stefan war in
Wien, ohne daß die Ungarn die mindeste Demonstration machten, und
die Geburt des Kronprinzen Rudolf, der nach dem ersten Bade zum Inhaber
eines ungarischen Regimentes gemacht wurde, ist im Magyarenlande mit
Wohlthätigkeitsstiftungen und andern loyalen Kundgebungen gefeiert worden,
daß selbst der Kreuzzeitung das Herz darüber jubelte.

Wir können also mit vollem Recht sagen: In Ungarn ist die Revolutions-
periode von 1848 zum Abschluß gebracht. Das alte Ungarn ist mit der oben
erwähnten Kapitulation von Komorn zu Grabe gegangen, und kann nie wieder
in dieser Gestalt zur Auferstehung kommen. Wie immer die Geschichte der
europäischen Staaten und Völker sich entwickeln mag: das alte Ungarn mit
seinem halb unbeschuhten, halb goldgeschnürten, halb der asiatischen, halb der
französischen Civilisation angehörenden Adel, mit seiner revolutionären Aristo¬
kratie und seinem streng monarchischen Volke, seiner liebenswürdigen Confusion
und seiner confusen Liebenswürdigkeit, kann nie und nimmermehr zurück¬
gebracht werden; denn es gehörte schon längst einer in Europa überwundenen
Culturperiode an, und die Jahre 1848 und 49 waren allenfalls stark genug,
um eine solche Abnormität sür immer zu beseitigen.

Dies ist jetzt die ungetheilte Ansicht aller Denkfähigen in Ungarn, sie mö-


Grenzboten IV. 1853. 31
Rückblick aus die nächste Vergangenheit Ungarns.

Zehn Jahre sind verflossen seit der Eroberung Wiens durch die Kroaten,
neun Jahre seit der Kapitulation Komorns, dieser letzten Scene des ungarischen
Revolutionsdramas. Die Gefallenen sind zum großen Theil vergessen, die Ein¬
gekerkerten fast alle in Freiheit gesetzt, die Verbannten in bedeutender Anzahl
zurückgekehrt; der Belagerungszustand hat in Ungarn wie in den übrigen Theilen
des großen Kaiserstaates aufgehört, und mit dem Aufheben des Paßwesens
haben Spionage und Angeberei, diese unzuverlässigsten und dennoch zumeist
gehütschelten Diener der Reaction, den Laufpaß bekommen. Die Gemüther sind,
wenn auch nicht beruhigt, so doch ruhig; Erzherzog Stefan war in
Wien, ohne daß die Ungarn die mindeste Demonstration machten, und
die Geburt des Kronprinzen Rudolf, der nach dem ersten Bade zum Inhaber
eines ungarischen Regimentes gemacht wurde, ist im Magyarenlande mit
Wohlthätigkeitsstiftungen und andern loyalen Kundgebungen gefeiert worden,
daß selbst der Kreuzzeitung das Herz darüber jubelte.

Wir können also mit vollem Recht sagen: In Ungarn ist die Revolutions-
periode von 1848 zum Abschluß gebracht. Das alte Ungarn ist mit der oben
erwähnten Kapitulation von Komorn zu Grabe gegangen, und kann nie wieder
in dieser Gestalt zur Auferstehung kommen. Wie immer die Geschichte der
europäischen Staaten und Völker sich entwickeln mag: das alte Ungarn mit
seinem halb unbeschuhten, halb goldgeschnürten, halb der asiatischen, halb der
französischen Civilisation angehörenden Adel, mit seiner revolutionären Aristo¬
kratie und seinem streng monarchischen Volke, seiner liebenswürdigen Confusion
und seiner confusen Liebenswürdigkeit, kann nie und nimmermehr zurück¬
gebracht werden; denn es gehörte schon längst einer in Europa überwundenen
Culturperiode an, und die Jahre 1848 und 49 waren allenfalls stark genug,
um eine solche Abnormität sür immer zu beseitigen.

Dies ist jetzt die ungetheilte Ansicht aller Denkfähigen in Ungarn, sie mö-


Grenzboten IV. 1853. 31
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[0249] Rückblick aus die nächste Vergangenheit Ungarns. Zehn Jahre sind verflossen seit der Eroberung Wiens durch die Kroaten, neun Jahre seit der Kapitulation Komorns, dieser letzten Scene des ungarischen Revolutionsdramas. Die Gefallenen sind zum großen Theil vergessen, die Ein¬ gekerkerten fast alle in Freiheit gesetzt, die Verbannten in bedeutender Anzahl zurückgekehrt; der Belagerungszustand hat in Ungarn wie in den übrigen Theilen des großen Kaiserstaates aufgehört, und mit dem Aufheben des Paßwesens haben Spionage und Angeberei, diese unzuverlässigsten und dennoch zumeist gehütschelten Diener der Reaction, den Laufpaß bekommen. Die Gemüther sind, wenn auch nicht beruhigt, so doch ruhig; Erzherzog Stefan war in Wien, ohne daß die Ungarn die mindeste Demonstration machten, und die Geburt des Kronprinzen Rudolf, der nach dem ersten Bade zum Inhaber eines ungarischen Regimentes gemacht wurde, ist im Magyarenlande mit Wohlthätigkeitsstiftungen und andern loyalen Kundgebungen gefeiert worden, daß selbst der Kreuzzeitung das Herz darüber jubelte. Wir können also mit vollem Recht sagen: In Ungarn ist die Revolutions- periode von 1848 zum Abschluß gebracht. Das alte Ungarn ist mit der oben erwähnten Kapitulation von Komorn zu Grabe gegangen, und kann nie wieder in dieser Gestalt zur Auferstehung kommen. Wie immer die Geschichte der europäischen Staaten und Völker sich entwickeln mag: das alte Ungarn mit seinem halb unbeschuhten, halb goldgeschnürten, halb der asiatischen, halb der französischen Civilisation angehörenden Adel, mit seiner revolutionären Aristo¬ kratie und seinem streng monarchischen Volke, seiner liebenswürdigen Confusion und seiner confusen Liebenswürdigkeit, kann nie und nimmermehr zurück¬ gebracht werden; denn es gehörte schon längst einer in Europa überwundenen Culturperiode an, und die Jahre 1848 und 49 waren allenfalls stark genug, um eine solche Abnormität sür immer zu beseitigen. Dies ist jetzt die ungetheilte Ansicht aller Denkfähigen in Ungarn, sie mö- Grenzboten IV. 1853. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/249>, abgerufen am 23.07.2024.