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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Güter der Production und Fabrication, die Waaren des Verkehrs und Han¬
dels. Wir meinen die Sprachbildung, das Dichten und Wissen und die Kunst.
Die Sprache an sich wird in ihrem natürlichen Bau immerfort als das sinn¬
vollste Merkmal und wesentlichste Kleinod der Nationalität gelten müssen.
Aber auch wo sie zum Organ freier Vernunftthätigkeit in Wissenschaft und
Dichtung wird und sich auf den gemeinsamen Blüten- und Fruchtseloern der
Poesie und Literatur bewegt und wo der Verkehr mit dem Ausland den
vielfältigsten Austausch geistiger Schöpfungen und eine gewisse Gemeinsamkeit
des Denkens und Empfindens angebahnt hat, behauptet jede Nation ihr
Eigenthum in Schöpfungen nachhaltiger Originalität. So was dem Volksleben
am nächsten liegt, das Sprichwort, der Volkswitz, das Volkslied; das fran¬
zösische Vaudeville, die spanische Romanze, die englisch-schottische Ballade, das
italienische Sonett zeigen dies aus höherer Stufe. Auf der höchsten aber be¬
kunden ein Cervantes und Montaigne, Shakespeare, Calderon und Corneille,
Ariost und Camoöns, Voltaire, Diderot und Lessing, Goethe und Schiller,
Walter Scott u. a. bei der vollkommensten geistigen Unmittelbarkeit ihre
Nationalität. Die Musterung der Kunstschöpfungen ist, weil sie eben der Sprache
ermangeln, nicht im gleichen Maße ergiebig; doch wenn sie nur theilweise
nationalen Charakter haben -- deutsche, italienische, spanische, niederländische
Malerei -- deutsche Baukunst aber weit über ihr (muthmaßlich nicht eigentlich
deutsches) Geburtsland hinaus erhabene Werke schuf, so tritt das Nationale
in volles Recht bei persönlichen Kunstdarstellungen, Gesang, Tanz, Mimik der
Boleros und Fandcmgo, die Polonaise und Mazurka, die italienische (leider
zu Grabe gegangene) eommeclig, alsit' arts, das italienische Carneval u. dergl.
sind durch die innigste Wahlverwandtschaft des Nationalcharakters und der
freien Kunst an ihren heimathlichen Boden gebunden und außerhalb dieses
nur gleich verpflanzten Topfgewächsen.

Als Endurtheil ergibt sich, daß die Individualität des nationalen, wie
sehr unter Hobel, Bürste und Sammthandschuh der Cultur genommen und
wie geneigt, sich auf der Weltbühne in die herrschenden Formen zu fügen,
dennoch innere Lebenskraft genug hat, auch in den höheren Potenzen des
Völkerlebens ihr eigentliches Palladium und ihre prägnantesten Merkzeichen
durch alle Culturgrade zu behaupten, und daß grade ihre Fortdauer inmitten
gemeinsamer Culturformen und die Art, wie diese sich "rationell gliedern, zu
W. dem Weltgang der Menschheit gehört.




Güter der Production und Fabrication, die Waaren des Verkehrs und Han¬
dels. Wir meinen die Sprachbildung, das Dichten und Wissen und die Kunst.
Die Sprache an sich wird in ihrem natürlichen Bau immerfort als das sinn¬
vollste Merkmal und wesentlichste Kleinod der Nationalität gelten müssen.
Aber auch wo sie zum Organ freier Vernunftthätigkeit in Wissenschaft und
Dichtung wird und sich auf den gemeinsamen Blüten- und Fruchtseloern der
Poesie und Literatur bewegt und wo der Verkehr mit dem Ausland den
vielfältigsten Austausch geistiger Schöpfungen und eine gewisse Gemeinsamkeit
des Denkens und Empfindens angebahnt hat, behauptet jede Nation ihr
Eigenthum in Schöpfungen nachhaltiger Originalität. So was dem Volksleben
am nächsten liegt, das Sprichwort, der Volkswitz, das Volkslied; das fran¬
zösische Vaudeville, die spanische Romanze, die englisch-schottische Ballade, das
italienische Sonett zeigen dies aus höherer Stufe. Auf der höchsten aber be¬
kunden ein Cervantes und Montaigne, Shakespeare, Calderon und Corneille,
Ariost und Camoöns, Voltaire, Diderot und Lessing, Goethe und Schiller,
Walter Scott u. a. bei der vollkommensten geistigen Unmittelbarkeit ihre
Nationalität. Die Musterung der Kunstschöpfungen ist, weil sie eben der Sprache
ermangeln, nicht im gleichen Maße ergiebig; doch wenn sie nur theilweise
nationalen Charakter haben — deutsche, italienische, spanische, niederländische
Malerei — deutsche Baukunst aber weit über ihr (muthmaßlich nicht eigentlich
deutsches) Geburtsland hinaus erhabene Werke schuf, so tritt das Nationale
in volles Recht bei persönlichen Kunstdarstellungen, Gesang, Tanz, Mimik der
Boleros und Fandcmgo, die Polonaise und Mazurka, die italienische (leider
zu Grabe gegangene) eommeclig, alsit' arts, das italienische Carneval u. dergl.
sind durch die innigste Wahlverwandtschaft des Nationalcharakters und der
freien Kunst an ihren heimathlichen Boden gebunden und außerhalb dieses
nur gleich verpflanzten Topfgewächsen.

Als Endurtheil ergibt sich, daß die Individualität des nationalen, wie
sehr unter Hobel, Bürste und Sammthandschuh der Cultur genommen und
wie geneigt, sich auf der Weltbühne in die herrschenden Formen zu fügen,
dennoch innere Lebenskraft genug hat, auch in den höheren Potenzen des
Völkerlebens ihr eigentliches Palladium und ihre prägnantesten Merkzeichen
durch alle Culturgrade zu behaupten, und daß grade ihre Fortdauer inmitten
gemeinsamer Culturformen und die Art, wie diese sich »rationell gliedern, zu
W. dem Weltgang der Menschheit gehört.




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[0239] Güter der Production und Fabrication, die Waaren des Verkehrs und Han¬ dels. Wir meinen die Sprachbildung, das Dichten und Wissen und die Kunst. Die Sprache an sich wird in ihrem natürlichen Bau immerfort als das sinn¬ vollste Merkmal und wesentlichste Kleinod der Nationalität gelten müssen. Aber auch wo sie zum Organ freier Vernunftthätigkeit in Wissenschaft und Dichtung wird und sich auf den gemeinsamen Blüten- und Fruchtseloern der Poesie und Literatur bewegt und wo der Verkehr mit dem Ausland den vielfältigsten Austausch geistiger Schöpfungen und eine gewisse Gemeinsamkeit des Denkens und Empfindens angebahnt hat, behauptet jede Nation ihr Eigenthum in Schöpfungen nachhaltiger Originalität. So was dem Volksleben am nächsten liegt, das Sprichwort, der Volkswitz, das Volkslied; das fran¬ zösische Vaudeville, die spanische Romanze, die englisch-schottische Ballade, das italienische Sonett zeigen dies aus höherer Stufe. Auf der höchsten aber be¬ kunden ein Cervantes und Montaigne, Shakespeare, Calderon und Corneille, Ariost und Camoöns, Voltaire, Diderot und Lessing, Goethe und Schiller, Walter Scott u. a. bei der vollkommensten geistigen Unmittelbarkeit ihre Nationalität. Die Musterung der Kunstschöpfungen ist, weil sie eben der Sprache ermangeln, nicht im gleichen Maße ergiebig; doch wenn sie nur theilweise nationalen Charakter haben — deutsche, italienische, spanische, niederländische Malerei — deutsche Baukunst aber weit über ihr (muthmaßlich nicht eigentlich deutsches) Geburtsland hinaus erhabene Werke schuf, so tritt das Nationale in volles Recht bei persönlichen Kunstdarstellungen, Gesang, Tanz, Mimik der Boleros und Fandcmgo, die Polonaise und Mazurka, die italienische (leider zu Grabe gegangene) eommeclig, alsit' arts, das italienische Carneval u. dergl. sind durch die innigste Wahlverwandtschaft des Nationalcharakters und der freien Kunst an ihren heimathlichen Boden gebunden und außerhalb dieses nur gleich verpflanzten Topfgewächsen. Als Endurtheil ergibt sich, daß die Individualität des nationalen, wie sehr unter Hobel, Bürste und Sammthandschuh der Cultur genommen und wie geneigt, sich auf der Weltbühne in die herrschenden Formen zu fügen, dennoch innere Lebenskraft genug hat, auch in den höheren Potenzen des Völkerlebens ihr eigentliches Palladium und ihre prägnantesten Merkzeichen durch alle Culturgrade zu behaupten, und daß grade ihre Fortdauer inmitten gemeinsamer Culturformen und die Art, wie diese sich »rationell gliedern, zu W. dem Weltgang der Menschheit gehört.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/239>, abgerufen am 23.07.2024.