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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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mag. So wird bei der Musterung staatlicher Gemeinwesen das Maß der
Willigkeit des Volkes zu leidendem Gehorsam, des Sinns für Vertheidigung
angestammter Rechte, die Art des Widerstandes gegen rechtskränkende Willkür,
der Befangenheit vom Nimbus der Hoheit u. s. w. auf der Völkertafel nicht
unwesentliche Ungleichheiten darbieten. Nicht anders in der gesellschaftlichen
und staatsrechtlichen Ordnung der Stände, der Haltung des Adels, der Bürger
und Bauern zueinander, der Hoffärtigkeit, Liebedienerei und Rangsucht. Da¬
bei ist die Frage, in welchem Stande sich die Nationalität am prägnantesten dar¬
stelle und die höhere Frage von Gemeingeist, nationalem Bewußtsein und
Stolz, von Patriotismus als vergeistigtem und in Activität gesetztem National¬
sinn, vom Festhalten am Bestehenden und von Liebe zu Neuerungen, von
Neigung zum Ausländischen und spröden Festhalten am Vaterländischen, von
Einhäusigkeit und Heimathsliebe, von Fahrlust und Touristenfieber. Ferner
die Stellung einer Nationalität, die frcmdbürtigem politischem Verbände ver¬
sallen ist, das Verhältniß des nationalen Charakters zum politischen. Endlich
gewisse nationale Antipathien als der Portugiesen gegen die Spanier, der Si-
cilianer gegen die Neapolitaner. Im Rechtswesen haben kanonische Satzungen
des Kirchenthums, Raffinement römischer Jurisprudenz und der Geist der Auf¬
klärung und Humanität, welcher im Criminalrecht aufgeräumt hat, das ur¬
alte Volksrecht bis auf die Wurzel angegriffen; dennoch steht dieses noch in
manchen ehrwürdigen oder auch mißgestalteten Trümmern da. und, um mit
Savigny zu reden, auch in nachgckommenen Rechtssatzungen bewährt sich wol
noch, daß das Volksrecht ein Theil des nationalen Körpers ist und nicht
gleich einem Rock an und abgelegt werden kann. Von den monotheistischen
Religionen liegt es im Wesen des Christenthums und des Islam, die
Schranke der Nationalität zu überschreiten; doch wird diese nicht ausgehoben;
neben den unwesentlichen Varietäten der liturgischen Formen gibt es ein un¬
gemein reiches Magazin nationaler Eigenthümlichkeit in der Auffassung ein
und desselben Glaubens, in dem Maß der Blindgläubigkeit, des orthodoxen
Rigorismus und Fanatismus, des Einflusses der Gläubigkeit auf Sittlichkeit
im Leben und Handeln; der Katholicismus des Jtalieners und des Münster-
ländcrs oder Vierwaldstädters, der Calvinismus der Züricher und der Schotten
liegen weit auseinander. Das Heerwesen hat seine nationalen Eigenthümlich¬
keiten auch bei der Gemeinsamkeit modernen Waffenthums oder früher des
mittelalterlichen Ritterthums, nie dergestalt eingebüßt, daß nicht das Maß
des kriegerischen Sinnes, das Geschick für einzelne Waffengattungen und tgi.
Unterschiede machte. Aehnliches gilt vom Seewesen. In ihrer ansprechendsten
Gestalt erscheint die Nationalität endlich in dem Gebiet, dessen Hervorbringungen
für das geistige Leben ebenso zur Allgemeinheit internationaler Mittheilung
und zu Austausch des Genusses berufen sind, wie im materiellen Leben die


mag. So wird bei der Musterung staatlicher Gemeinwesen das Maß der
Willigkeit des Volkes zu leidendem Gehorsam, des Sinns für Vertheidigung
angestammter Rechte, die Art des Widerstandes gegen rechtskränkende Willkür,
der Befangenheit vom Nimbus der Hoheit u. s. w. auf der Völkertafel nicht
unwesentliche Ungleichheiten darbieten. Nicht anders in der gesellschaftlichen
und staatsrechtlichen Ordnung der Stände, der Haltung des Adels, der Bürger
und Bauern zueinander, der Hoffärtigkeit, Liebedienerei und Rangsucht. Da¬
bei ist die Frage, in welchem Stande sich die Nationalität am prägnantesten dar¬
stelle und die höhere Frage von Gemeingeist, nationalem Bewußtsein und
Stolz, von Patriotismus als vergeistigtem und in Activität gesetztem National¬
sinn, vom Festhalten am Bestehenden und von Liebe zu Neuerungen, von
Neigung zum Ausländischen und spröden Festhalten am Vaterländischen, von
Einhäusigkeit und Heimathsliebe, von Fahrlust und Touristenfieber. Ferner
die Stellung einer Nationalität, die frcmdbürtigem politischem Verbände ver¬
sallen ist, das Verhältniß des nationalen Charakters zum politischen. Endlich
gewisse nationale Antipathien als der Portugiesen gegen die Spanier, der Si-
cilianer gegen die Neapolitaner. Im Rechtswesen haben kanonische Satzungen
des Kirchenthums, Raffinement römischer Jurisprudenz und der Geist der Auf¬
klärung und Humanität, welcher im Criminalrecht aufgeräumt hat, das ur¬
alte Volksrecht bis auf die Wurzel angegriffen; dennoch steht dieses noch in
manchen ehrwürdigen oder auch mißgestalteten Trümmern da. und, um mit
Savigny zu reden, auch in nachgckommenen Rechtssatzungen bewährt sich wol
noch, daß das Volksrecht ein Theil des nationalen Körpers ist und nicht
gleich einem Rock an und abgelegt werden kann. Von den monotheistischen
Religionen liegt es im Wesen des Christenthums und des Islam, die
Schranke der Nationalität zu überschreiten; doch wird diese nicht ausgehoben;
neben den unwesentlichen Varietäten der liturgischen Formen gibt es ein un¬
gemein reiches Magazin nationaler Eigenthümlichkeit in der Auffassung ein
und desselben Glaubens, in dem Maß der Blindgläubigkeit, des orthodoxen
Rigorismus und Fanatismus, des Einflusses der Gläubigkeit auf Sittlichkeit
im Leben und Handeln; der Katholicismus des Jtalieners und des Münster-
ländcrs oder Vierwaldstädters, der Calvinismus der Züricher und der Schotten
liegen weit auseinander. Das Heerwesen hat seine nationalen Eigenthümlich¬
keiten auch bei der Gemeinsamkeit modernen Waffenthums oder früher des
mittelalterlichen Ritterthums, nie dergestalt eingebüßt, daß nicht das Maß
des kriegerischen Sinnes, das Geschick für einzelne Waffengattungen und tgi.
Unterschiede machte. Aehnliches gilt vom Seewesen. In ihrer ansprechendsten
Gestalt erscheint die Nationalität endlich in dem Gebiet, dessen Hervorbringungen
für das geistige Leben ebenso zur Allgemeinheit internationaler Mittheilung
und zu Austausch des Genusses berufen sind, wie im materiellen Leben die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/238>, abgerufen am 23.07.2024.