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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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den Werken altkircblicher Kunst bis zu ihren Gipfeln Bach und Händel, ist
Stoff und Ausdruck untrennbar, völlig Eins, wie es in der Kunst sein soll,
überall in sich die vollkommenste Wahrheit, wenn auch die Ausdrucksform durch
die Anschauungsweise des Zeitalters bedingt. Deshalb ist das Studium der
alten Meister für die religiöse Musik unserer, über deren Standpunkt sehr
unklaren Zeit, das beste Kräftigungsmittel; jedoch auch nur dann, wenn es
die innern Beziehungen zwischen der äußern Erscheinung und der darin
ruhenden Idee aufzudecken, und durch unsere heutige Anschauung modificirt. in
uns ganz verständlicher Weise wieder herauszustellen sucht, sich aber nicht mit
bloßer Betrachtung und Nachahmung der äußerlichen Form begnügt.

Indem wir noch flüchtig den Nutzen berühren, welchen in dieser Beziehung
die Ausgabe der Bachgesellschaft gestiftet hat. wenn man auch mit deren die
Folge der herausgegebenen Werke betreffenden Anordnung allerdings keines¬
wegs einverstanden sein kann -- wollen wir der Händelgesellschast nur Glück
wünschen, daß sie einen so vorzüglichen Kenner seiner Sache, wie Chrysander
an ihrer Spitze hat. Andrerseits macht die allgemeine Vortrefflichkeit seiner
Händelbiogrciphie das Verlangen rege, daß auch eine ähnliche Lebensbeschreibung
Bachs die Herausgabe seiner Werke begleiten mochten. Eine Biographie
Bachs muß man fast ooch für eine größere Aufgabe halten; sein Leben und
Schaffen, sehr in sich gekehrt und nach außen hin weniger bewegt wie Han¬
dels, hat für uns etwas Mystisches, grade wie seine Werke, deren Stoffe,
wenn auch mit den kirchlichen Satzungen seiner Zeit im engsten Zusammen¬
hang, doch durch seine allumscisseude Geisteskraft in den mannigfachsten Formen
einen unendlichen allgemeinen Jdeeninhalt gewonnen haben. Bei dem kräf¬
tig nach außen hin lebenden Händel, dessen ganzer Entwicklungsgang klarer
zu übersehn und mit seinen Werken in Einklang zu bringen ist, kommt dem
Geschichtschreiber auch mannigfaches biographisches, freilich der Sichtung sehr
bedürftiges, Material zu Gute; über Bach weiß man aber sehr wenig. Bei
keinem Meister ist die Person vor den Werken mehr in den Hintergrund ge¬
treten. Die Kraft und Liebe, mit der Chrysander seinen Meister studirt und
sich in ihn hineingelebt hat, die außerordentliche Richtigkeit und Gesundheit
des Urtheils lassen in ihm einen Musikgeschichtschreiber erblicken, wie die heu-
tigeHeit unter den Lebenden kaum eines zweiten sich rühmen kann. Ob aber auch
Bach durch ihn seine ganz gerechte Würdigung erlangen würde, müßte noch
durch seine von Natur aus innige Stellung zu Händel in Frage gestellt
bleiben.

Am Schluß des ersten Capitels spricht der Verfasser die Worte aus:
.,Die Bescheidung eines solchen Lebens höherer Begabung muß bestrebt sein,
jeden Schritt seiner Entwicklung, von der traulichsten Umfriedung der Familie
aus bis zum höchsten aufsteigend, verständlich darzustellen." Diesem Aus-


den Werken altkircblicher Kunst bis zu ihren Gipfeln Bach und Händel, ist
Stoff und Ausdruck untrennbar, völlig Eins, wie es in der Kunst sein soll,
überall in sich die vollkommenste Wahrheit, wenn auch die Ausdrucksform durch
die Anschauungsweise des Zeitalters bedingt. Deshalb ist das Studium der
alten Meister für die religiöse Musik unserer, über deren Standpunkt sehr
unklaren Zeit, das beste Kräftigungsmittel; jedoch auch nur dann, wenn es
die innern Beziehungen zwischen der äußern Erscheinung und der darin
ruhenden Idee aufzudecken, und durch unsere heutige Anschauung modificirt. in
uns ganz verständlicher Weise wieder herauszustellen sucht, sich aber nicht mit
bloßer Betrachtung und Nachahmung der äußerlichen Form begnügt.

Indem wir noch flüchtig den Nutzen berühren, welchen in dieser Beziehung
die Ausgabe der Bachgesellschaft gestiftet hat. wenn man auch mit deren die
Folge der herausgegebenen Werke betreffenden Anordnung allerdings keines¬
wegs einverstanden sein kann — wollen wir der Händelgesellschast nur Glück
wünschen, daß sie einen so vorzüglichen Kenner seiner Sache, wie Chrysander
an ihrer Spitze hat. Andrerseits macht die allgemeine Vortrefflichkeit seiner
Händelbiogrciphie das Verlangen rege, daß auch eine ähnliche Lebensbeschreibung
Bachs die Herausgabe seiner Werke begleiten mochten. Eine Biographie
Bachs muß man fast ooch für eine größere Aufgabe halten; sein Leben und
Schaffen, sehr in sich gekehrt und nach außen hin weniger bewegt wie Han¬
dels, hat für uns etwas Mystisches, grade wie seine Werke, deren Stoffe,
wenn auch mit den kirchlichen Satzungen seiner Zeit im engsten Zusammen¬
hang, doch durch seine allumscisseude Geisteskraft in den mannigfachsten Formen
einen unendlichen allgemeinen Jdeeninhalt gewonnen haben. Bei dem kräf¬
tig nach außen hin lebenden Händel, dessen ganzer Entwicklungsgang klarer
zu übersehn und mit seinen Werken in Einklang zu bringen ist, kommt dem
Geschichtschreiber auch mannigfaches biographisches, freilich der Sichtung sehr
bedürftiges, Material zu Gute; über Bach weiß man aber sehr wenig. Bei
keinem Meister ist die Person vor den Werken mehr in den Hintergrund ge¬
treten. Die Kraft und Liebe, mit der Chrysander seinen Meister studirt und
sich in ihn hineingelebt hat, die außerordentliche Richtigkeit und Gesundheit
des Urtheils lassen in ihm einen Musikgeschichtschreiber erblicken, wie die heu-
tigeHeit unter den Lebenden kaum eines zweiten sich rühmen kann. Ob aber auch
Bach durch ihn seine ganz gerechte Würdigung erlangen würde, müßte noch
durch seine von Natur aus innige Stellung zu Händel in Frage gestellt
bleiben.

Am Schluß des ersten Capitels spricht der Verfasser die Worte aus:
.,Die Bescheidung eines solchen Lebens höherer Begabung muß bestrebt sein,
jeden Schritt seiner Entwicklung, von der traulichsten Umfriedung der Familie
aus bis zum höchsten aufsteigend, verständlich darzustellen." Diesem Aus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/109>, abgerufen am 02.07.2024.