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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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den Frankreichs gänzlich vernichten würde. Das Cabinet der Tuilerien theilte
diese Auffassung und lehnte die angetragene Kooperation mit Oestreich ab, es
wollte die neuen Institutionen Frankreichs nicht Sardinien zum Vortheil Oest¬
reichs aufdrängen. Eine freie Tribüne in Turin ersparte Frankreich ein Be¬
obachtungscorps am Fuße der Alpen. Zugleich brach das Ministerium, dem
Azeglio vorstand, jenen Anschuldigungen die Spitze ab, indem es einige der
gefährlichsten Flüchtlinge auswies, andere auf den Wunsch Frankreichs intcr-
nirte, und trotz heftigen Widerstandes der Kammer ein Gesetz über die Presse
durchführte, welches die Beleidigung fremder Souveräne dem Urtheil der
Geschwornen entzog und jene Fürsten so mehr beschützte als den eignen König.
Die Negierung zeigte darin eine weise Nachgiebigkeit und keine Feigheit; denn
die Staaten zweiten Ranges können sich dem Einfluß großer Nachbarn, mit
denen sie auf gutem Fuße.leben wollen, nicht entziehen. Frankreich erklärte
sich durch diese Maßregeln befriedigt, und als sein Gesandter H. de Butcnval
in Turin auf eigne Hand einen zu hohen Ton annahm, ward er abberufen.

Der bedeutsamste Act, durch den dann später Sardinien in die europäischen
Fragen eingegriffen hat, ist bekanntlich sein Zutritt zur westlichen Allianz gegen
Rußland. Man hat dieselbe vom rein politischen Gesichtspunkt vielfach ge¬
tadelt und gefragt, was hat sie dem Staate eingebracht? Materiell allerdings
nichts; sie hat vielmehr Geld und Blut gekostet, moralisch hat indeß Sar¬
dinien gewiß Vortheil davon gezogen. Es ist immerhin etwas, ebenbürtig an
der Seite der Großmächte und Oestreich zum Trotz auf den europäischen Con-
gressen zu erscheinen und seine Vertreter in allen Commissionen sitzen zu haben,
welche sich mit der Ordnung der schwebenden Fragen beschäftigen. Sardinien
hat hier nach dem alten Satz eines seiner Fürsten gehandelt, der seinem
Nachfolger sagte: surtout vo^sx, quo rien ne i'-Wo <in Lurorxz, sans eins
von" ^ und diese active Politik hat es namentlich den andern italie¬
nischen Regierungen gegenüber gehoben, welche in träger Unthätigkeit verharr¬
ten, ja Neapel sah die westmächtlichen Gesandten infolge des pariser Friedens
abberufen, während Sardinien als eng mit diesen Mächten verbunden erschien.
Darauf aber, durch sein Beispiel die öffentliche Meinung in den andern Staa¬
ten Italiens zu gewinnen, kommt für Piemont alles an. bei jeder Maßregel,
die es nimmt, wird es sich fragen: welchen Eindruck wird sie in Italien
machen? Nicht daß wir die Lenker seiner Regierung für revolutionär halten,
im Gegentheil glauben wir, daß dieselben und namentlich Gras' Cavour
allen umstürzenden Pinnen feind sind und eine Einheit Italiens dermalen für
unmöglich halten. Sie wünschen aber aus Italien einen Staatenbund zu
machen, in welchem ihr Staat die' Hegemonie Hütte, zu diesem Zweck wollen
sie die Bevölkerungen gewinnen und durch ihr Beispiel einen moralischen
Druck auf die Regierungen üben. Letzteres ist allerdings bisher noch wenig


den Frankreichs gänzlich vernichten würde. Das Cabinet der Tuilerien theilte
diese Auffassung und lehnte die angetragene Kooperation mit Oestreich ab, es
wollte die neuen Institutionen Frankreichs nicht Sardinien zum Vortheil Oest¬
reichs aufdrängen. Eine freie Tribüne in Turin ersparte Frankreich ein Be¬
obachtungscorps am Fuße der Alpen. Zugleich brach das Ministerium, dem
Azeglio vorstand, jenen Anschuldigungen die Spitze ab, indem es einige der
gefährlichsten Flüchtlinge auswies, andere auf den Wunsch Frankreichs intcr-
nirte, und trotz heftigen Widerstandes der Kammer ein Gesetz über die Presse
durchführte, welches die Beleidigung fremder Souveräne dem Urtheil der
Geschwornen entzog und jene Fürsten so mehr beschützte als den eignen König.
Die Negierung zeigte darin eine weise Nachgiebigkeit und keine Feigheit; denn
die Staaten zweiten Ranges können sich dem Einfluß großer Nachbarn, mit
denen sie auf gutem Fuße.leben wollen, nicht entziehen. Frankreich erklärte
sich durch diese Maßregeln befriedigt, und als sein Gesandter H. de Butcnval
in Turin auf eigne Hand einen zu hohen Ton annahm, ward er abberufen.

Der bedeutsamste Act, durch den dann später Sardinien in die europäischen
Fragen eingegriffen hat, ist bekanntlich sein Zutritt zur westlichen Allianz gegen
Rußland. Man hat dieselbe vom rein politischen Gesichtspunkt vielfach ge¬
tadelt und gefragt, was hat sie dem Staate eingebracht? Materiell allerdings
nichts; sie hat vielmehr Geld und Blut gekostet, moralisch hat indeß Sar¬
dinien gewiß Vortheil davon gezogen. Es ist immerhin etwas, ebenbürtig an
der Seite der Großmächte und Oestreich zum Trotz auf den europäischen Con-
gressen zu erscheinen und seine Vertreter in allen Commissionen sitzen zu haben,
welche sich mit der Ordnung der schwebenden Fragen beschäftigen. Sardinien
hat hier nach dem alten Satz eines seiner Fürsten gehandelt, der seinem
Nachfolger sagte: surtout vo^sx, quo rien ne i'-Wo <in Lurorxz, sans eins
von« ^ und diese active Politik hat es namentlich den andern italie¬
nischen Regierungen gegenüber gehoben, welche in träger Unthätigkeit verharr¬
ten, ja Neapel sah die westmächtlichen Gesandten infolge des pariser Friedens
abberufen, während Sardinien als eng mit diesen Mächten verbunden erschien.
Darauf aber, durch sein Beispiel die öffentliche Meinung in den andern Staa¬
ten Italiens zu gewinnen, kommt für Piemont alles an. bei jeder Maßregel,
die es nimmt, wird es sich fragen: welchen Eindruck wird sie in Italien
machen? Nicht daß wir die Lenker seiner Regierung für revolutionär halten,
im Gegentheil glauben wir, daß dieselben und namentlich Gras' Cavour
allen umstürzenden Pinnen feind sind und eine Einheit Italiens dermalen für
unmöglich halten. Sie wünschen aber aus Italien einen Staatenbund zu
machen, in welchem ihr Staat die' Hegemonie Hütte, zu diesem Zweck wollen
sie die Bevölkerungen gewinnen und durch ihr Beispiel einen moralischen
Druck auf die Regierungen üben. Letzteres ist allerdings bisher noch wenig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/102>, abgerufen am 28.09.2024.