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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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eine, zuletzt anderthalb Stunden, Müller schrieb alles auf. aus Besorgniß,
die französischen Ausdrücke zu verfehlen. Seine Stimmung wechselt, wie es
bei seinein sanguinischen Wesen natürlich war, zwischen Ungeduld und excen¬
trischer Hoffnung. Unmittelbar nach Eröffnung seines Kollegiums schreibt er
an Bonstetten: "Wenn ich an diese Arbeiten denke, sehe ich nichts vor mir
als einen zweifelhaften Erfolg, wenn auf die Schweizerhistorie, eine ununter¬
brochene und fast schändlich verzögerte Arbeit, wenn auf die Alten, verlassene
unentbehrliche Lehrer und Muster, wenn an meine Freunde, versäumte Brief¬
wechsel und beleidigte Männer u. s. w.; durch welche Dinge ich zuweilen
betrübt werde, so daß ich fühle, daß dieser Raub meiner Zeit mir, dem
nichts theurer als die Zeit ist, ein unersetzlicher Verlust ist." -- Aber dann
26. Jan. 1779: "Es ist ein unbeschreibliches Vergnügen, alle Zeiten und alle
Völker zu durchwandern, und auf dem ganzen Erdboden alles nach und nach
hell zu machen, so daß man überall zu Hause sei. Der Schweizerhistorie ist
es von großem Nutzen, ich sehe nun einen ausgedehnteren Kreis, und bemerke
besser, was zur Kenntniß unserer Länder nöthig ist." und 2. April: "Beson¬
ders freut mich die lichte Ordnung, die täglich mehr in den Plan meiner
Studien kömmt, also daß ich alles Unzweckmäßige absondere, und aus allem
ein Ganzes mache, und meine Schritte gleichsam zählen kann." Zuweilen
fehlte es nicht an verdrießlichen Widersprüchen, so namentlich in Bezug auf
seine Religionsgeschichte. Er hatte die Wunder einfach.weggelassen und von
dem Christenthum nur die moralische Seite hervorgehoben; darüber mußte
er von Bonnet 31. Jan. 1779 sehr ernsthafte Vorwürfe hören: "Daß ich in
meinen Vorlesungen mich öffentlich zum Unglauben bekannt, und äußerst
schlimme Grundsätze gelehret habe; und besonders verwies er mir, daß ich
im Gespräch die Reformation in-UIiöureuize genannt habe. Niemals habe ich
diesen Mann in solchem Eifer gesehen, er sprach laut, heftig, wie begeistert,
als hätte ich Gott verrathen, als müßte er durch ein Machtwort nun das
Christenthum in seiner Todesnoth erretten."

Müller suchte sich vor seinen Zuhörern zu rechtfertigen: "Daß ich die Refor¬
mation d arin . daß durch sie die Schweiz getrennt worden, für dieses Land
hierin unglücklich genannt habe, sei geschehen, w eil ich nicht gewußt habe, daß
Calvinus zu Genf Gott sei." Tronchin fand die Vorlesungen noch zu christlich.
Diese Irrungen wurden indeß bald wieder beseitigt und nach dem Schluß
seiner Vorlesungen hatte Müller die Freude, 222 große Thaler einzunehmen,
wozu noch das Versprechen Tronchins kam, ihn zum Dank sür seine Verdienste
um Genf in eine Leibrente einzukaufen. Die übergroße Anstrengung ließ
bei ihm freilich eine große Erschöpfung zurück, indeß erholte er sich bald und
meldet schon am 12. Juni an seinen Bruder von dem Plan, den diese Vor¬
lesungen hervorgerufen haben. "Mein Kollegium hat mich zu genauerer Be-


9"

eine, zuletzt anderthalb Stunden, Müller schrieb alles auf. aus Besorgniß,
die französischen Ausdrücke zu verfehlen. Seine Stimmung wechselt, wie es
bei seinein sanguinischen Wesen natürlich war, zwischen Ungeduld und excen¬
trischer Hoffnung. Unmittelbar nach Eröffnung seines Kollegiums schreibt er
an Bonstetten: „Wenn ich an diese Arbeiten denke, sehe ich nichts vor mir
als einen zweifelhaften Erfolg, wenn auf die Schweizerhistorie, eine ununter¬
brochene und fast schändlich verzögerte Arbeit, wenn auf die Alten, verlassene
unentbehrliche Lehrer und Muster, wenn an meine Freunde, versäumte Brief¬
wechsel und beleidigte Männer u. s. w.; durch welche Dinge ich zuweilen
betrübt werde, so daß ich fühle, daß dieser Raub meiner Zeit mir, dem
nichts theurer als die Zeit ist, ein unersetzlicher Verlust ist." — Aber dann
26. Jan. 1779: „Es ist ein unbeschreibliches Vergnügen, alle Zeiten und alle
Völker zu durchwandern, und auf dem ganzen Erdboden alles nach und nach
hell zu machen, so daß man überall zu Hause sei. Der Schweizerhistorie ist
es von großem Nutzen, ich sehe nun einen ausgedehnteren Kreis, und bemerke
besser, was zur Kenntniß unserer Länder nöthig ist." und 2. April: „Beson¬
ders freut mich die lichte Ordnung, die täglich mehr in den Plan meiner
Studien kömmt, also daß ich alles Unzweckmäßige absondere, und aus allem
ein Ganzes mache, und meine Schritte gleichsam zählen kann." Zuweilen
fehlte es nicht an verdrießlichen Widersprüchen, so namentlich in Bezug auf
seine Religionsgeschichte. Er hatte die Wunder einfach.weggelassen und von
dem Christenthum nur die moralische Seite hervorgehoben; darüber mußte
er von Bonnet 31. Jan. 1779 sehr ernsthafte Vorwürfe hören: „Daß ich in
meinen Vorlesungen mich öffentlich zum Unglauben bekannt, und äußerst
schlimme Grundsätze gelehret habe; und besonders verwies er mir, daß ich
im Gespräch die Reformation in-UIiöureuize genannt habe. Niemals habe ich
diesen Mann in solchem Eifer gesehen, er sprach laut, heftig, wie begeistert,
als hätte ich Gott verrathen, als müßte er durch ein Machtwort nun das
Christenthum in seiner Todesnoth erretten."

Müller suchte sich vor seinen Zuhörern zu rechtfertigen: „Daß ich die Refor¬
mation d arin . daß durch sie die Schweiz getrennt worden, für dieses Land
hierin unglücklich genannt habe, sei geschehen, w eil ich nicht gewußt habe, daß
Calvinus zu Genf Gott sei." Tronchin fand die Vorlesungen noch zu christlich.
Diese Irrungen wurden indeß bald wieder beseitigt und nach dem Schluß
seiner Vorlesungen hatte Müller die Freude, 222 große Thaler einzunehmen,
wozu noch das Versprechen Tronchins kam, ihn zum Dank sür seine Verdienste
um Genf in eine Leibrente einzukaufen. Die übergroße Anstrengung ließ
bei ihm freilich eine große Erschöpfung zurück, indeß erholte er sich bald und
meldet schon am 12. Juni an seinen Bruder von dem Plan, den diese Vor¬
lesungen hervorgerufen haben. „Mein Kollegium hat mich zu genauerer Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/75>, abgerufen am 21.12.2024.