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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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geklärt ist, wo kein König herrscht, wo ich aus- und eingehen darf ohne
Zwang, keine Auflagen zahle, und mich nicht unter eines Einzigen Wort
schmiege. Wenn die Schweiz zu Grunde geht, so gehe ich nach England.
Ich glaube aber unsere Gefahr nicht so nahe. Polen hat alle mittelmäßigen
Staaten aufgeschreckt.....Ich begreife sehr wohl, daß Ihnen der Auf¬
enthalt angenehm sein mag; mir, der ich es nicht gewohnt bin, könnte er
unerträglich werden." -- Nach erfolgter Aufklärung nahm er diese Aeußerun¬
gen zurück, aber die Sache zerschlug sich. Es ist auch kaum anzunehmen,
daß die Pädagogik ihn damals würde gefesselt haben. Doch schrieb er an
Nicolai aus Genf, ö> Juli 1774: "Ich sehe meine Stelle als einen bloßen
Aufschub an und hoffe, nicht ohne Grund, in dieser Zeit mich geschickter zu
machen, die gelehrten und politischen Verfassungen des preußischen Reichs
einst mit philosophischem Auge zu beobachten, und würdiger zu werden, täg¬
lich und persönlich mit einem so schätzenswerthen würdigen Freunde, wie Sie,
umzugehen. Erhalten Sie mein Andenken bei den würdigen Männern zu
Berlin."

Im Frühling 1773 besuchte er mit einigen schaffhnuser Freunden die
helvetische Gesellschaft zu Schinznach; dort lernte er, 9. Mai, Victor von
Bonstetten kennen, "damals einen um sieben Jahr ältern Jüngling, der
mit einer sehr lebhaften Einbildungskraft und einem unersättlichen Durst nach
Wissenschaft eine ausgesuchte Blüte der schönsten Kenntnisse und mit allen
Vortheilen der äußerlichen Bildung ein edles, gefühlvolles Herz und eine außer¬
ordentliche Grazie der Sitten vereinigte. Da entstand gleich dem Blitz, der
eine schnell durchfahrende, alles umfassende Flamme urplötzlich entzündet,
jene Freundschaft, deren Urkunden Friderika Brun. die dünische Muse,
derselben Empfindung würdig, vor die Augen des Publicums gebracht hat.*)
eine Freundschaft von der strengsten, reinsten Tugend, in allem andern den¬
jenigen gleich, die im Alterthum die besten und größten Dinge hervorgebracht
haben; eine Verbindung, die. nachdem sie über zwölf Jahre beiden das wahre
Kleinod, der Geist ihres Lebens gewesen, als lange und große Entfernung
in weitverschiedenen Laufbahnen auch die moralische Berührung seltener
machte, die fröhlichste Erinnerung des tadelfreiesten. fruchtbarsten und edelsten
Verhältnisses zurückließ." (Worte der Selbstbiographie.) Der Briefwechsel wurde,
wenigstens von Müllers Seite, so eifrig getrieben, daß er zuweilen, selbst in
einer Periode, wo er einen Folianten nach dem andern excerpirte und daneben



') "Briefe eines jungen Gelehrten an seinen Freund, 1A1S", anfangs ohne Müllers
Wissen publicirt, der sich indeß dann den Beifall, den sie im Publieum fanden, wohl gefallen
ließ. Die Sammlung umfaßte nur die Jahre 1773--1779, Die Freundschaft gab ihm Er¬
satz für die Liebe, die er nie gesucht; was die Lästerer daraus herleiten, mag der Liebhaber
des Scandals bei Woltmann nachlesen.

geklärt ist, wo kein König herrscht, wo ich aus- und eingehen darf ohne
Zwang, keine Auflagen zahle, und mich nicht unter eines Einzigen Wort
schmiege. Wenn die Schweiz zu Grunde geht, so gehe ich nach England.
Ich glaube aber unsere Gefahr nicht so nahe. Polen hat alle mittelmäßigen
Staaten aufgeschreckt.....Ich begreife sehr wohl, daß Ihnen der Auf¬
enthalt angenehm sein mag; mir, der ich es nicht gewohnt bin, könnte er
unerträglich werden." — Nach erfolgter Aufklärung nahm er diese Aeußerun¬
gen zurück, aber die Sache zerschlug sich. Es ist auch kaum anzunehmen,
daß die Pädagogik ihn damals würde gefesselt haben. Doch schrieb er an
Nicolai aus Genf, ö> Juli 1774: „Ich sehe meine Stelle als einen bloßen
Aufschub an und hoffe, nicht ohne Grund, in dieser Zeit mich geschickter zu
machen, die gelehrten und politischen Verfassungen des preußischen Reichs
einst mit philosophischem Auge zu beobachten, und würdiger zu werden, täg¬
lich und persönlich mit einem so schätzenswerthen würdigen Freunde, wie Sie,
umzugehen. Erhalten Sie mein Andenken bei den würdigen Männern zu
Berlin."

Im Frühling 1773 besuchte er mit einigen schaffhnuser Freunden die
helvetische Gesellschaft zu Schinznach; dort lernte er, 9. Mai, Victor von
Bonstetten kennen, „damals einen um sieben Jahr ältern Jüngling, der
mit einer sehr lebhaften Einbildungskraft und einem unersättlichen Durst nach
Wissenschaft eine ausgesuchte Blüte der schönsten Kenntnisse und mit allen
Vortheilen der äußerlichen Bildung ein edles, gefühlvolles Herz und eine außer¬
ordentliche Grazie der Sitten vereinigte. Da entstand gleich dem Blitz, der
eine schnell durchfahrende, alles umfassende Flamme urplötzlich entzündet,
jene Freundschaft, deren Urkunden Friderika Brun. die dünische Muse,
derselben Empfindung würdig, vor die Augen des Publicums gebracht hat.*)
eine Freundschaft von der strengsten, reinsten Tugend, in allem andern den¬
jenigen gleich, die im Alterthum die besten und größten Dinge hervorgebracht
haben; eine Verbindung, die. nachdem sie über zwölf Jahre beiden das wahre
Kleinod, der Geist ihres Lebens gewesen, als lange und große Entfernung
in weitverschiedenen Laufbahnen auch die moralische Berührung seltener
machte, die fröhlichste Erinnerung des tadelfreiesten. fruchtbarsten und edelsten
Verhältnisses zurückließ." (Worte der Selbstbiographie.) Der Briefwechsel wurde,
wenigstens von Müllers Seite, so eifrig getrieben, daß er zuweilen, selbst in
einer Periode, wo er einen Folianten nach dem andern excerpirte und daneben



') „Briefe eines jungen Gelehrten an seinen Freund, 1A1S", anfangs ohne Müllers
Wissen publicirt, der sich indeß dann den Beifall, den sie im Publieum fanden, wohl gefallen
ließ. Die Sammlung umfaßte nur die Jahre 1773--1779, Die Freundschaft gab ihm Er¬
satz für die Liebe, die er nie gesucht; was die Lästerer daraus herleiten, mag der Liebhaber
des Scandals bei Woltmann nachlesen.
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[0064] geklärt ist, wo kein König herrscht, wo ich aus- und eingehen darf ohne Zwang, keine Auflagen zahle, und mich nicht unter eines Einzigen Wort schmiege. Wenn die Schweiz zu Grunde geht, so gehe ich nach England. Ich glaube aber unsere Gefahr nicht so nahe. Polen hat alle mittelmäßigen Staaten aufgeschreckt.....Ich begreife sehr wohl, daß Ihnen der Auf¬ enthalt angenehm sein mag; mir, der ich es nicht gewohnt bin, könnte er unerträglich werden." — Nach erfolgter Aufklärung nahm er diese Aeußerun¬ gen zurück, aber die Sache zerschlug sich. Es ist auch kaum anzunehmen, daß die Pädagogik ihn damals würde gefesselt haben. Doch schrieb er an Nicolai aus Genf, ö> Juli 1774: „Ich sehe meine Stelle als einen bloßen Aufschub an und hoffe, nicht ohne Grund, in dieser Zeit mich geschickter zu machen, die gelehrten und politischen Verfassungen des preußischen Reichs einst mit philosophischem Auge zu beobachten, und würdiger zu werden, täg¬ lich und persönlich mit einem so schätzenswerthen würdigen Freunde, wie Sie, umzugehen. Erhalten Sie mein Andenken bei den würdigen Männern zu Berlin." Im Frühling 1773 besuchte er mit einigen schaffhnuser Freunden die helvetische Gesellschaft zu Schinznach; dort lernte er, 9. Mai, Victor von Bonstetten kennen, „damals einen um sieben Jahr ältern Jüngling, der mit einer sehr lebhaften Einbildungskraft und einem unersättlichen Durst nach Wissenschaft eine ausgesuchte Blüte der schönsten Kenntnisse und mit allen Vortheilen der äußerlichen Bildung ein edles, gefühlvolles Herz und eine außer¬ ordentliche Grazie der Sitten vereinigte. Da entstand gleich dem Blitz, der eine schnell durchfahrende, alles umfassende Flamme urplötzlich entzündet, jene Freundschaft, deren Urkunden Friderika Brun. die dünische Muse, derselben Empfindung würdig, vor die Augen des Publicums gebracht hat.*) eine Freundschaft von der strengsten, reinsten Tugend, in allem andern den¬ jenigen gleich, die im Alterthum die besten und größten Dinge hervorgebracht haben; eine Verbindung, die. nachdem sie über zwölf Jahre beiden das wahre Kleinod, der Geist ihres Lebens gewesen, als lange und große Entfernung in weitverschiedenen Laufbahnen auch die moralische Berührung seltener machte, die fröhlichste Erinnerung des tadelfreiesten. fruchtbarsten und edelsten Verhältnisses zurückließ." (Worte der Selbstbiographie.) Der Briefwechsel wurde, wenigstens von Müllers Seite, so eifrig getrieben, daß er zuweilen, selbst in einer Periode, wo er einen Folianten nach dem andern excerpirte und daneben ') „Briefe eines jungen Gelehrten an seinen Freund, 1A1S", anfangs ohne Müllers Wissen publicirt, der sich indeß dann den Beifall, den sie im Publieum fanden, wohl gefallen ließ. Die Sammlung umfaßte nur die Jahre 1773--1779, Die Freundschaft gab ihm Er¬ satz für die Liebe, die er nie gesucht; was die Lästerer daraus herleiten, mag der Liebhaber des Scandals bei Woltmann nachlesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/64>, abgerufen am 21.12.2024.