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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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Jesus den Christen, den Griechen 'Sokrates predigte, die jeder nach Lage.
Temperament, Umständen und Kopf, alle aber zuletzt auf einen gewissen Plan
hin modificiren." (28. April 1773). Er nimmt selbst für Helvetius gegen
Mendelsohn Partei, und die neuen Apostel des Christenthums sind ihm ein
Greuel, so namentlich sein Landsmann Lavater, Als dieser Oct. >?72 nach
Schaffhausen kam, schreibt Müller an Füßli - "Die Mütterchens unter Hauben und
Perücken haben Gott gedankt, weil sie ihren Heiland gesehn. Doch bald
glaube ich, daß bei uns die Aufklärung durch den Fanatismus kommen muß;
denn es ist nichts Seltnes in unserer besten Welt voll Mängel, daß Gutes
aus Bösem wird. Die Providenz hat halb ihr Spiel mit dem sich wichtig
dünkenden Menschenthierchen auf dem Sandkorn Erde. Ja bisweilen will es
mir scheinen, durch Negociationen mit der Ignoranz und dem Aberglauben
kann mau leicht so große Revolutionen zu Stande bringen als durch Luthers
und Voltaires offenbare Gewalt,"") -- Lavater, in vieler Rücksicht ein Schwär¬
mer, in andern noch Schlimmeres, gehörte doch zugleich zu deu feinsten
Menschenkennern jeuer Zeit; was es auch mit seiner Theorie der Physiognomik für
eine Bewandtnis; haben mag, in der Praxis war er groß, und er hat M. auf
den ersten Blick ebenso richtig beurtheilt, wie Stollberg. "Müller", schreibt er
1 773 an Spaltung, "ist ein zwanzigjähriges Nonstrum Druckitiom". Er hat
das beste Herz, ist aber im Schreiben noch absprechend und dreist, Genie
zur Historie hat er viel. Er steht bei vielen Gelehrten in großer Achtung.
Sein Stil ist sehr witzig und bis zur Affectation lebhaft. Aber er hat das
Gute, daß er sich gern belehren läßt und sich leicht schämen kann. Er ist
äußerst sein organisin, hat ein Helles, leuchtendes Paar Augen; sonst sieht er
sehr jungfräulich aus. Ich glaube, mau kann aus ihm machen, was
man will. Sein Gedächtniß scheint beinahe übermenschlich zu sein." --

Schon in der Mitte 1771 hatte ihn Schlözer zu Recensionen in die
deutsche Bibliothek aufgefordert, und einige derselben erschienen zu Anfang
des folgenden Jahres, über Lessings Berengarius, Seinlers Ter-
tulli a u und Füßlins Kir es engcschich te. Sie sind entschieden ketzerisch,
und ebenso merklich ist die Neigung, auch in den Schriften berühmter Männer
die Schwächen nachzuweisen, während Müller später selbst über Mittelmäßiges zu
anerkennend urtheilte.^) Sein eigener Bruder bemerkt in den Briefen und
Schriften ans dieser Periode den Einfluß der französischen Literatur, uament-




") Am 15, März 1774 schreibt er Nil F,: "Vor ein paar Tagen kam an mich ein Exemplar
von Lavnters vermischten Schriften, ohne Brief; mir das Motto war unterstrichen, Ich weiß
gar nicht, was diese Armseligkeiten zu bedeuten haben; oder soll ich einst in der Geschichte
einige Schriften Lcwatcrs als Phänomene des Unsinns in Helvetien aufführen ?"
") Auch für den Merkur warb ihn Wieland April 1773 in einem sehr schmeichelhaften
Schreiben,

Jesus den Christen, den Griechen 'Sokrates predigte, die jeder nach Lage.
Temperament, Umständen und Kopf, alle aber zuletzt auf einen gewissen Plan
hin modificiren." (28. April 1773). Er nimmt selbst für Helvetius gegen
Mendelsohn Partei, und die neuen Apostel des Christenthums sind ihm ein
Greuel, so namentlich sein Landsmann Lavater, Als dieser Oct. >?72 nach
Schaffhausen kam, schreibt Müller an Füßli - „Die Mütterchens unter Hauben und
Perücken haben Gott gedankt, weil sie ihren Heiland gesehn. Doch bald
glaube ich, daß bei uns die Aufklärung durch den Fanatismus kommen muß;
denn es ist nichts Seltnes in unserer besten Welt voll Mängel, daß Gutes
aus Bösem wird. Die Providenz hat halb ihr Spiel mit dem sich wichtig
dünkenden Menschenthierchen auf dem Sandkorn Erde. Ja bisweilen will es
mir scheinen, durch Negociationen mit der Ignoranz und dem Aberglauben
kann mau leicht so große Revolutionen zu Stande bringen als durch Luthers
und Voltaires offenbare Gewalt,"") — Lavater, in vieler Rücksicht ein Schwär¬
mer, in andern noch Schlimmeres, gehörte doch zugleich zu deu feinsten
Menschenkennern jeuer Zeit; was es auch mit seiner Theorie der Physiognomik für
eine Bewandtnis; haben mag, in der Praxis war er groß, und er hat M. auf
den ersten Blick ebenso richtig beurtheilt, wie Stollberg. „Müller", schreibt er
1 773 an Spaltung, „ist ein zwanzigjähriges Nonstrum Druckitiom». Er hat
das beste Herz, ist aber im Schreiben noch absprechend und dreist, Genie
zur Historie hat er viel. Er steht bei vielen Gelehrten in großer Achtung.
Sein Stil ist sehr witzig und bis zur Affectation lebhaft. Aber er hat das
Gute, daß er sich gern belehren läßt und sich leicht schämen kann. Er ist
äußerst sein organisin, hat ein Helles, leuchtendes Paar Augen; sonst sieht er
sehr jungfräulich aus. Ich glaube, mau kann aus ihm machen, was
man will. Sein Gedächtniß scheint beinahe übermenschlich zu sein." —

Schon in der Mitte 1771 hatte ihn Schlözer zu Recensionen in die
deutsche Bibliothek aufgefordert, und einige derselben erschienen zu Anfang
des folgenden Jahres, über Lessings Berengarius, Seinlers Ter-
tulli a u und Füßlins Kir es engcschich te. Sie sind entschieden ketzerisch,
und ebenso merklich ist die Neigung, auch in den Schriften berühmter Männer
die Schwächen nachzuweisen, während Müller später selbst über Mittelmäßiges zu
anerkennend urtheilte.^) Sein eigener Bruder bemerkt in den Briefen und
Schriften ans dieser Periode den Einfluß der französischen Literatur, uament-




") Am 15, März 1774 schreibt er Nil F,: „Vor ein paar Tagen kam an mich ein Exemplar
von Lavnters vermischten Schriften, ohne Brief; mir das Motto war unterstrichen, Ich weiß
gar nicht, was diese Armseligkeiten zu bedeuten haben; oder soll ich einst in der Geschichte
einige Schriften Lcwatcrs als Phänomene des Unsinns in Helvetien aufführen ?"
") Auch für den Merkur warb ihn Wieland April 1773 in einem sehr schmeichelhaften
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/62>, abgerufen am 21.12.2024.