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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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blick hatte er auf das Abschreiben helvetischer Urkunden, Gesetze und Geschichts¬
bücher gewandt, das er oft bis in die tiefe Nacht fortsetzte. Neben dem schrieb
er alles, was er merkwürdiges las und horte, sogleich an seinen Ort auf, und
diese Ordnungsliebe vererbte er auf seinen Enkel. Er hatte eine große Samm¬
lung historischer Kupferstiche, welche von der züricher Bibliothek als Neujahrs¬
blätter an die Jugend ausgetheilt wurden, diese zeigte er dem wißbegierigen
Knaben, erzählte ihm die vorgestellten Geschichten und bald war Johannes
bei seinem bewundernswürdigen Gedächtniß im Stande, sie wieder vorzutragen.
Die Holzschnitte in Münsters Kosmographie und Stumpfen Chronik konnte
er fast alle nennen. Lerder starb der Großvater schon 1757. Seitdem hielt
ihn namentlich die Mutter zur Religion, zum Gebet und Lesen der Bibel an.
Bon seinen Schulkameraden wurde er seines schwachen Gesichts und seiner
"zappelnden Lebhaftigkeit" wegen häusig verspottet. Auf der Schule lernte er
nach der damaligen Sitte hauptsächlich lateinisch sprechen, zu Hause las er viel,
meist historische Bücher, z. B. Hübners biblische Historien; später und mit größter
Freude die Bibel selbst; den Orbis pictus, den Kaiser Octavianus u. a., her¬
nach Gotth. Heideggers ,/V00"'ki, MInIvMÄ; Hübners Geographie und zehn
dicke Duodezbände Fragen aus der politischen Historie las er sehr eifrig und
behielt die Namen und Jahrzahlen aller Fürsten der vier Weltmonarchren bis
auf den letzten, so wie die aller Bürgermeister und Bürgervorsteher von Schaff¬
hausen, und sein Gedächtniß war ihm so treu, daß er sie noch in den letzten
Jahren seines Lebens ohne Fehler hersagen konnte. Aus den Stadtchromken
schrieb er in seinem neunten Jahr eine Geschichte von Schaffhausen nach
Hübners Methode in Frage und Antwort. Unter einem verdrießlichen Schul-
rector mußte er außer dein hcidelbcrgschen Katechismus des Cellarius latei¬
nisches Wörterbuch und Baumeisters Definitionen der Wolfschen Logik, die
niemand erklärte, auswendig lernen. Eine mühsame Berglcichung des Cal-
visischcn, Usherschen und Petavischcn Systems der Chronologie in der alten
Geschichte war sein erster Versuch historischer Kritik. Im Collegium Humcmi-
tatis in seinem 14 Jahre machte er sich sür seine Studien einen Plan in
griechischer Sprache und las die Bibel im Urtext sehr gründlich.. Die Theo¬
logie hörte er nach Wuttenbachs, eines strengen Wolsiancrs Compendium, dem
er aber niemals Geschmack abgewinnen konnte. Meistens blieb er bis spät
in die Nacht bei seiner Arbeit und stand des Morgens um 4 Uhr wieder auf,
ohne daß seine Gesundheit darunter, gelitten hatte. Seine Schulreden sind
zum Theil noch vorhanden, und verrathen, namentlich die über den Pedantis¬
mus und über die Freundschaft, nicht wenig Spuren jener lärmenden Genie¬
sucht, die man in jener Zeit wie eine Art Epidemie betrachten muß.

Es war in Schaffhausen gesetzliche Vorschrift, daß jeder Theolog wenig¬
stens zwei Jahr auf einer auswärtigen Universität studiren mußte. So reiste er


blick hatte er auf das Abschreiben helvetischer Urkunden, Gesetze und Geschichts¬
bücher gewandt, das er oft bis in die tiefe Nacht fortsetzte. Neben dem schrieb
er alles, was er merkwürdiges las und horte, sogleich an seinen Ort auf, und
diese Ordnungsliebe vererbte er auf seinen Enkel. Er hatte eine große Samm¬
lung historischer Kupferstiche, welche von der züricher Bibliothek als Neujahrs¬
blätter an die Jugend ausgetheilt wurden, diese zeigte er dem wißbegierigen
Knaben, erzählte ihm die vorgestellten Geschichten und bald war Johannes
bei seinem bewundernswürdigen Gedächtniß im Stande, sie wieder vorzutragen.
Die Holzschnitte in Münsters Kosmographie und Stumpfen Chronik konnte
er fast alle nennen. Lerder starb der Großvater schon 1757. Seitdem hielt
ihn namentlich die Mutter zur Religion, zum Gebet und Lesen der Bibel an.
Bon seinen Schulkameraden wurde er seines schwachen Gesichts und seiner
„zappelnden Lebhaftigkeit" wegen häusig verspottet. Auf der Schule lernte er
nach der damaligen Sitte hauptsächlich lateinisch sprechen, zu Hause las er viel,
meist historische Bücher, z. B. Hübners biblische Historien; später und mit größter
Freude die Bibel selbst; den Orbis pictus, den Kaiser Octavianus u. a., her¬
nach Gotth. Heideggers ,/V00»'ki, MInIvMÄ; Hübners Geographie und zehn
dicke Duodezbände Fragen aus der politischen Historie las er sehr eifrig und
behielt die Namen und Jahrzahlen aller Fürsten der vier Weltmonarchren bis
auf den letzten, so wie die aller Bürgermeister und Bürgervorsteher von Schaff¬
hausen, und sein Gedächtniß war ihm so treu, daß er sie noch in den letzten
Jahren seines Lebens ohne Fehler hersagen konnte. Aus den Stadtchromken
schrieb er in seinem neunten Jahr eine Geschichte von Schaffhausen nach
Hübners Methode in Frage und Antwort. Unter einem verdrießlichen Schul-
rector mußte er außer dein hcidelbcrgschen Katechismus des Cellarius latei¬
nisches Wörterbuch und Baumeisters Definitionen der Wolfschen Logik, die
niemand erklärte, auswendig lernen. Eine mühsame Berglcichung des Cal-
visischcn, Usherschen und Petavischcn Systems der Chronologie in der alten
Geschichte war sein erster Versuch historischer Kritik. Im Collegium Humcmi-
tatis in seinem 14 Jahre machte er sich sür seine Studien einen Plan in
griechischer Sprache und las die Bibel im Urtext sehr gründlich.. Die Theo¬
logie hörte er nach Wuttenbachs, eines strengen Wolsiancrs Compendium, dem
er aber niemals Geschmack abgewinnen konnte. Meistens blieb er bis spät
in die Nacht bei seiner Arbeit und stand des Morgens um 4 Uhr wieder auf,
ohne daß seine Gesundheit darunter, gelitten hatte. Seine Schulreden sind
zum Theil noch vorhanden, und verrathen, namentlich die über den Pedantis¬
mus und über die Freundschaft, nicht wenig Spuren jener lärmenden Genie¬
sucht, die man in jener Zeit wie eine Art Epidemie betrachten muß.

Es war in Schaffhausen gesetzliche Vorschrift, daß jeder Theolog wenig¬
stens zwei Jahr auf einer auswärtigen Universität studiren mußte. So reiste er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/56>, abgerufen am 21.12.2024.