Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.mit fortgerissen. Auch in seinem Urtheil, wo es sich um vergangene Dinge Bei diesem Wesen kann auch ein classischer Geschichtschreiber nicht gedacht mit fortgerissen. Auch in seinem Urtheil, wo es sich um vergangene Dinge Bei diesem Wesen kann auch ein classischer Geschichtschreiber nicht gedacht <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0053" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186465"/> <p xml:id="ID_129" prev="#ID_128"> mit fortgerissen. Auch in seinem Urtheil, wo es sich um vergangene Dinge<lb/> handelt, wird man oft durch die seltsamsten Widersprüche befremdet. Jede<lb/> Thatsache hat verschiedene Seiten, und wenn man ihnen gegenüber nicht aus<lb/> einem festen Standpunft steht, so wird man hald durch die eine, bald durch<lb/> die andere geblendet. In seinem Gemüth an den engen Kreis seiner nächsten<lb/> Freunde, seiner Heimath, seiner Familientraditionen gebannt, erstieg er durch<lb/> seine wissenschaftlichen Forschungen eine Warte, die unendlich hoch über das Ge¬<lb/> wühl der Sterblichen hinausragte. Beides zu vermitteln ist ihm nicht ge¬<lb/> lungen. Es waren die beiden Pole seines Denkens und Empfindens, zwi¬<lb/> schen denen seine Seele in den heftigsten Schwingungen zitterte; heute hoff¬<lb/> nungsreich revolutionär, morgen ein verbitterter Anwalt alles Alten, weil es<lb/> alt war, hente ein Apostel der Freiheit und Humanität, morgen Christ und<lb/> Mystiker; heute ein Weltbürger in der verwegensten Bedeutung, morgen nichts<lb/> als treuherziger Eidgenosse. Die Farbe kam niemals ans seiner Einsicht,<lb/> sondern aus seinem Gemüth und dessen unmittelbaren Beziehungen. Bei<lb/> diesem fortwährendem Wechsel der Stimmungen Übersicht man leicht das Echte<lb/> und Bleibendein demselben; und doch ist es vorhanden; ja man konnte aus<lb/> seinen Briefen und Schriften, wenn man die augenblicklichen Auswüchse ent¬<lb/> fernt, ein Lehrgebäude echter Staatsweisheit entwerfen, das ihm freilich nicht<lb/> zu gute kam, weil das bloße Stichwort Evolution nicht Revolution! noch<lb/> nicht ausreicht, das aber seine Nachfolger auf das mannigfaltigste befruch-<lb/> tet hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_130" next="#ID_131"> Bei diesem Wesen kann auch ein classischer Geschichtschreiber nicht gedacht<lb/> werden, doch ist man, namentlich seit Niebuhrs Urtheil bekannt geworden ist,<lb/> gegen seine Forschungen häufig ungerecht. Wir werden sehen, wie der Huß<lb/> sowol gegen die philosophirende, als gegen die kritisch zersetzende Geschichts¬<lb/> forschung den Leittvn seines Studiums bildet, und grade diesen Richtungen<lb/> war es vorbehalten, der Wissenschaft eine neue Gestalt zu geben. Aber es<lb/> wäre das höchste Unrecht, die wissenschaftliche Grundlage seiner Geschichts¬<lb/> kenntnisse zu bestreiten. Leider ist bei weitem der größte Theil seiner Arbeiten,<lb/> die Excerptensammlung ans allen Quellenschriftstellcrn der Weltgeschichte, für<lb/> ihn fruchtlos gewesen. Spätere haben viel daraus gelernt, nicht immer mit<lb/> der gebührenden Anerkennung ihres Lehrers. Sein Wissen war staunenswerth<lb/> und sein Trieb, mit Bienenfleiß fortwährend neues Material zu sammeln, hat<lb/> unter den damaligen Gelehrten nicht seines Gleichen. Nicht blos in der Ge¬<lb/> schichte aller Länder und Völker war er der erste Gelehrte seiner Zeit, er um¬<lb/> faßte, und keineswegs als bloßer Dilettant, das Gesammtgebiet der Literatur,<lb/> und hatte aus allen Zweigen der Staatswissenschaft ein gründliches Studium<lb/> gemacht. Kritik in umfassenderen? Sinn war nicht seine Sache, weil er die<lb/> Thatsachen in ihrer Bildlichkeit zu sehr in sein Gemüth aufgenommen hatte,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0053]
mit fortgerissen. Auch in seinem Urtheil, wo es sich um vergangene Dinge
handelt, wird man oft durch die seltsamsten Widersprüche befremdet. Jede
Thatsache hat verschiedene Seiten, und wenn man ihnen gegenüber nicht aus
einem festen Standpunft steht, so wird man hald durch die eine, bald durch
die andere geblendet. In seinem Gemüth an den engen Kreis seiner nächsten
Freunde, seiner Heimath, seiner Familientraditionen gebannt, erstieg er durch
seine wissenschaftlichen Forschungen eine Warte, die unendlich hoch über das Ge¬
wühl der Sterblichen hinausragte. Beides zu vermitteln ist ihm nicht ge¬
lungen. Es waren die beiden Pole seines Denkens und Empfindens, zwi¬
schen denen seine Seele in den heftigsten Schwingungen zitterte; heute hoff¬
nungsreich revolutionär, morgen ein verbitterter Anwalt alles Alten, weil es
alt war, hente ein Apostel der Freiheit und Humanität, morgen Christ und
Mystiker; heute ein Weltbürger in der verwegensten Bedeutung, morgen nichts
als treuherziger Eidgenosse. Die Farbe kam niemals ans seiner Einsicht,
sondern aus seinem Gemüth und dessen unmittelbaren Beziehungen. Bei
diesem fortwährendem Wechsel der Stimmungen Übersicht man leicht das Echte
und Bleibendein demselben; und doch ist es vorhanden; ja man konnte aus
seinen Briefen und Schriften, wenn man die augenblicklichen Auswüchse ent¬
fernt, ein Lehrgebäude echter Staatsweisheit entwerfen, das ihm freilich nicht
zu gute kam, weil das bloße Stichwort Evolution nicht Revolution! noch
nicht ausreicht, das aber seine Nachfolger auf das mannigfaltigste befruch-
tet hat.
Bei diesem Wesen kann auch ein classischer Geschichtschreiber nicht gedacht
werden, doch ist man, namentlich seit Niebuhrs Urtheil bekannt geworden ist,
gegen seine Forschungen häufig ungerecht. Wir werden sehen, wie der Huß
sowol gegen die philosophirende, als gegen die kritisch zersetzende Geschichts¬
forschung den Leittvn seines Studiums bildet, und grade diesen Richtungen
war es vorbehalten, der Wissenschaft eine neue Gestalt zu geben. Aber es
wäre das höchste Unrecht, die wissenschaftliche Grundlage seiner Geschichts¬
kenntnisse zu bestreiten. Leider ist bei weitem der größte Theil seiner Arbeiten,
die Excerptensammlung ans allen Quellenschriftstellcrn der Weltgeschichte, für
ihn fruchtlos gewesen. Spätere haben viel daraus gelernt, nicht immer mit
der gebührenden Anerkennung ihres Lehrers. Sein Wissen war staunenswerth
und sein Trieb, mit Bienenfleiß fortwährend neues Material zu sammeln, hat
unter den damaligen Gelehrten nicht seines Gleichen. Nicht blos in der Ge¬
schichte aller Länder und Völker war er der erste Gelehrte seiner Zeit, er um¬
faßte, und keineswegs als bloßer Dilettant, das Gesammtgebiet der Literatur,
und hatte aus allen Zweigen der Staatswissenschaft ein gründliches Studium
gemacht. Kritik in umfassenderen? Sinn war nicht seine Sache, weil er die
Thatsachen in ihrer Bildlichkeit zu sehr in sein Gemüth aufgenommen hatte,
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