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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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weiter Spielraum geöffnet. Bei Guizot war es anders. Er hat in der That
das, was ihn bestimmte, vollständig ausgesprochen, wenigstens so weit er selbst
es wußte, und es bleibt ihm nicht viel nachzuholen übrig: ein günstiges Zeichen
für die Ehrlichkeit, ein minder günstiges für die Productivität des Staats¬
mannes.

Guizot adoptirt in diesen Memoiren die Bezeichnung eines doctrinären
Staatsmannes und sucht eine Erklärung davon zu geben, die sich aber im
Ganzen auf der Oberfläche hält. Das Studium seiner historischen Schriften
gibt ein besseres Hilfsmittel zum Verständniß dieses Ausdrucks.

Die frühern französischen Historiker hatten bei der Construction der fran¬
zösischen Geschichte in der Regel ein bestimmtes Element ausschließlich im
Auge behalten, entweder den fränkischen Kriegsadel oder die römischen Muni-
cipien, das celtische Landvolk, oder auch die Kirche, Guizot hat zuerst ver¬
sucht, in seinen Vorlesungen jedem dieser Elemente sein beschränktes Recht an¬
zuweisen und so sie alle zur Geltung zu bringen; dasselbe hat er in der
Politik versucht.

Drei Parteien, die auf drei verschiedenen Schichten der Gesellschaft be¬
ruhten, kämpften um die Herrschaft in Frankreich: der alte Feudal- und Hof¬
adel mit der Geistlichkeit verbunden; der napoleonische Militäradel und das
an der Philosophie des 18. Jahrhunderts aufgewachsene Bürgerthum von 1.789;
eine vierte Schicht, das Proletariat mit seinen Ansprüchen auf allgemeine
Glückseligkeit, bewegte sich vorläufig noch in den unterirdischen Regionen.
Während nun die verschiedenen Parteiführer sich bemühten, einer einzelnen
Schicht zur Herrschaft zu verhelfen, hielt es der Doctrinär--und das charakte-
risirt ihn für alle Zeiten und Völker -- für seine Pflicht, allen Classen gleich¬
mäßig den ihnen gebührenden Antheil am Staatsleben zu verschaffen. An und
sür sich ist der Gedanke vollkommen richtig, und jede Regierung, die mehr als
eine momentane Dauer wünscht, wird den Weg des Kompromisses betreten;
sie wird sich hüten, eine einflußreiche Classe des Volks zu unbedingten Feinden
des Staats zu machen.

Allein es reicht nicht aus, den richtigen Platz, auf dem sich die Politik
der Regierung bewegen soll, nach allgemeinen Gesichtspunkten zu umgrenzen.
Um dies Princip der Vermittlung auf eine fruchtbare Weise durchzuführen,
muß man entweder durch äußere Kraft von den Parteien unabhängig sein,
um ihrer einseitigen Leidenschaft den entschlossenen Willen einer wahren Re¬
gierung entgegenzusetzen, oder man muß ihnen an Einsicht in die Bedürf¬
nisse der Gegenwart und an schöpferischer Kraft so weit überlegen sein, daß
sie sich fügen müssen. Keines von beiden war bei Guizot der Fall. In dem
Getümmel der Parteien hatte er keinen andern Halt als die Parteien selbst.
Sein einziges Augenmerk war, die seinige so zu verstärken, daß er mit le-


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weiter Spielraum geöffnet. Bei Guizot war es anders. Er hat in der That
das, was ihn bestimmte, vollständig ausgesprochen, wenigstens so weit er selbst
es wußte, und es bleibt ihm nicht viel nachzuholen übrig: ein günstiges Zeichen
für die Ehrlichkeit, ein minder günstiges für die Productivität des Staats¬
mannes.

Guizot adoptirt in diesen Memoiren die Bezeichnung eines doctrinären
Staatsmannes und sucht eine Erklärung davon zu geben, die sich aber im
Ganzen auf der Oberfläche hält. Das Studium seiner historischen Schriften
gibt ein besseres Hilfsmittel zum Verständniß dieses Ausdrucks.

Die frühern französischen Historiker hatten bei der Construction der fran¬
zösischen Geschichte in der Regel ein bestimmtes Element ausschließlich im
Auge behalten, entweder den fränkischen Kriegsadel oder die römischen Muni-
cipien, das celtische Landvolk, oder auch die Kirche, Guizot hat zuerst ver¬
sucht, in seinen Vorlesungen jedem dieser Elemente sein beschränktes Recht an¬
zuweisen und so sie alle zur Geltung zu bringen; dasselbe hat er in der
Politik versucht.

Drei Parteien, die auf drei verschiedenen Schichten der Gesellschaft be¬
ruhten, kämpften um die Herrschaft in Frankreich: der alte Feudal- und Hof¬
adel mit der Geistlichkeit verbunden; der napoleonische Militäradel und das
an der Philosophie des 18. Jahrhunderts aufgewachsene Bürgerthum von 1.789;
eine vierte Schicht, das Proletariat mit seinen Ansprüchen auf allgemeine
Glückseligkeit, bewegte sich vorläufig noch in den unterirdischen Regionen.
Während nun die verschiedenen Parteiführer sich bemühten, einer einzelnen
Schicht zur Herrschaft zu verhelfen, hielt es der Doctrinär—und das charakte-
risirt ihn für alle Zeiten und Völker — für seine Pflicht, allen Classen gleich¬
mäßig den ihnen gebührenden Antheil am Staatsleben zu verschaffen. An und
sür sich ist der Gedanke vollkommen richtig, und jede Regierung, die mehr als
eine momentane Dauer wünscht, wird den Weg des Kompromisses betreten;
sie wird sich hüten, eine einflußreiche Classe des Volks zu unbedingten Feinden
des Staats zu machen.

Allein es reicht nicht aus, den richtigen Platz, auf dem sich die Politik
der Regierung bewegen soll, nach allgemeinen Gesichtspunkten zu umgrenzen.
Um dies Princip der Vermittlung auf eine fruchtbare Weise durchzuführen,
muß man entweder durch äußere Kraft von den Parteien unabhängig sein,
um ihrer einseitigen Leidenschaft den entschlossenen Willen einer wahren Re¬
gierung entgegenzusetzen, oder man muß ihnen an Einsicht in die Bedürf¬
nisse der Gegenwart und an schöpferischer Kraft so weit überlegen sein, daß
sie sich fügen müssen. Keines von beiden war bei Guizot der Fall. In dem
Getümmel der Parteien hatte er keinen andern Halt als die Parteien selbst.
Sein einziges Augenmerk war, die seinige so zu verstärken, daß er mit le-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/411>, abgerufen am 22.12.2024.