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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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gewöhnlich ganz fremden, oft viel älteren Mann vermählt worden. Daß
ihre Erziehung ihnen einen sittlichen Halt gegeben hätte, tonnen wir min¬
destens nicht als die Regel ansehen, da grade über die Erziehung oft und ge¬
legentlich sogar über eine vorzeitige Berderbniß der Jungfrauen geklagt wird.
Um so sicherer und schneller übte die Atmosphäre der Unsittlichkeit, in die sie
nun versetzt wurden, und deren Gift sie gleichsam unwillkürlich einathmeten,
ihre verderblichen Wirkungen. Die Sittenlosigkeit in alte" Perioden der
Kaiserherrschnft, über welche wir genauer unterrichtet sind, ist auch in den
schlimmsten Zeiten schwerlich überboten worden.

An die sittliche Fäulnis; der ersteren Periode wird man durch die römische
Literatur des ersten Jahrhunderts mehrfach erinnert; am meisten durch Ovid,
dessen Gedichte zum Theil wörtlich in Paris geschrieben sein könnten, wie
es vor hundert Jahren war. "Allzu bäurisch ist der," heißt es unter andern,
"den die Leidenschaften seiner Frau ärgern, er kennt die Sitten Roms noch
nicht genug; bist du klug, so übe Nachsicht gegen deine Dame (eloimua,), lege die
finstere Miene ab und bestehe nicht streng auf den Rechten des Gemahls;
sei zuvorkommend gegen die Freunde, die deine Frau dir verschafft, sie wird
dir viele verschaffen. So wird Gunst mit sehr geringer Mühe erkauft. So
wirst du immer zu den Festen geladen werden, die junge Männer veranstalten,
und vieles im Hause haben, wofür du nicht bezahlt haft." In einer andern
Elegie fordert der Liebhaber den Mann auf, die Frau sorgfältiger zu bewah¬
ren, und ihm überhaupt mehr Schwierigkeiten in den Weg zu legen. Habe
man gar keine zu überwinden, so sei das Verhältniß nicht pikant genug und
malt werde es bald überdrüssig. -- Zu den corrumpirenden Einflüssen, welche
die schone Literatur übte, gesellte sich die schlimmste Entartung der Bühne, wo
die Posse (munu^), voll der größten Unzüchtigkeiten das große Publicum, das auf
raffinirten Sinnenkitzel berechnete Ballet (Mutoiiümudi) die seine Welt ergötzte.
Aehnlichen oder noch schlimmeren Schauspielen waren die Frauen bei Gast¬
mählern ausgesetzt. Die Verlockungen der Schauspiele, die Aufregungen der
Gastmähler nennt Tncituö nebeneinander als die Hauptgefahrcn für Unschuld
und Sittenreinheit. Was auf der Bühne gewagt werdet! durfte, stand den
bildenden Künsten um so mehr frei. Schon Properz klagt über die Bilder,
die man jetzt an den Wänden sehe, und welche die unschuldigen Augen der Frauen
und Mädchen verderben. So wuchs ans allen Seite" mit dem Verfall der
Sitten die Licenz, und die Licenz der Literatur, der ,^unse und der Bühne
trug wieder zur Steigerung der Berbcrbniß bei.

Bon dieser Berderbniß war mindestens die große tonangebende Mehrzahl
Roms im ersten Jahrhundert ergriffen. Dieser Mehrzahl war das Laster
Gegenstand des Scherzes, galt Frauentngcnd (wenn sie überhaupt an deren
Existenz glaubte) als ländliche Einfalt, eheliche Treue als lächerliche Pedanterie,


gewöhnlich ganz fremden, oft viel älteren Mann vermählt worden. Daß
ihre Erziehung ihnen einen sittlichen Halt gegeben hätte, tonnen wir min¬
destens nicht als die Regel ansehen, da grade über die Erziehung oft und ge¬
legentlich sogar über eine vorzeitige Berderbniß der Jungfrauen geklagt wird.
Um so sicherer und schneller übte die Atmosphäre der Unsittlichkeit, in die sie
nun versetzt wurden, und deren Gift sie gleichsam unwillkürlich einathmeten,
ihre verderblichen Wirkungen. Die Sittenlosigkeit in alte» Perioden der
Kaiserherrschnft, über welche wir genauer unterrichtet sind, ist auch in den
schlimmsten Zeiten schwerlich überboten worden.

An die sittliche Fäulnis; der ersteren Periode wird man durch die römische
Literatur des ersten Jahrhunderts mehrfach erinnert; am meisten durch Ovid,
dessen Gedichte zum Theil wörtlich in Paris geschrieben sein könnten, wie
es vor hundert Jahren war. „Allzu bäurisch ist der," heißt es unter andern,
„den die Leidenschaften seiner Frau ärgern, er kennt die Sitten Roms noch
nicht genug; bist du klug, so übe Nachsicht gegen deine Dame (eloimua,), lege die
finstere Miene ab und bestehe nicht streng auf den Rechten des Gemahls;
sei zuvorkommend gegen die Freunde, die deine Frau dir verschafft, sie wird
dir viele verschaffen. So wird Gunst mit sehr geringer Mühe erkauft. So
wirst du immer zu den Festen geladen werden, die junge Männer veranstalten,
und vieles im Hause haben, wofür du nicht bezahlt haft." In einer andern
Elegie fordert der Liebhaber den Mann auf, die Frau sorgfältiger zu bewah¬
ren, und ihm überhaupt mehr Schwierigkeiten in den Weg zu legen. Habe
man gar keine zu überwinden, so sei das Verhältniß nicht pikant genug und
malt werde es bald überdrüssig. — Zu den corrumpirenden Einflüssen, welche
die schone Literatur übte, gesellte sich die schlimmste Entartung der Bühne, wo
die Posse (munu^), voll der größten Unzüchtigkeiten das große Publicum, das auf
raffinirten Sinnenkitzel berechnete Ballet (Mutoiiümudi) die seine Welt ergötzte.
Aehnlichen oder noch schlimmeren Schauspielen waren die Frauen bei Gast¬
mählern ausgesetzt. Die Verlockungen der Schauspiele, die Aufregungen der
Gastmähler nennt Tncituö nebeneinander als die Hauptgefahrcn für Unschuld
und Sittenreinheit. Was auf der Bühne gewagt werdet! durfte, stand den
bildenden Künsten um so mehr frei. Schon Properz klagt über die Bilder,
die man jetzt an den Wänden sehe, und welche die unschuldigen Augen der Frauen
und Mädchen verderben. So wuchs ans allen Seite» mit dem Verfall der
Sitten die Licenz, und die Licenz der Literatur, der ,^unse und der Bühne
trug wieder zur Steigerung der Berbcrbniß bei.

Bon dieser Berderbniß war mindestens die große tonangebende Mehrzahl
Roms im ersten Jahrhundert ergriffen. Dieser Mehrzahl war das Laster
Gegenstand des Scherzes, galt Frauentngcnd (wenn sie überhaupt an deren
Existenz glaubte) als ländliche Einfalt, eheliche Treue als lächerliche Pedanterie,


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[0040] gewöhnlich ganz fremden, oft viel älteren Mann vermählt worden. Daß ihre Erziehung ihnen einen sittlichen Halt gegeben hätte, tonnen wir min¬ destens nicht als die Regel ansehen, da grade über die Erziehung oft und ge¬ legentlich sogar über eine vorzeitige Berderbniß der Jungfrauen geklagt wird. Um so sicherer und schneller übte die Atmosphäre der Unsittlichkeit, in die sie nun versetzt wurden, und deren Gift sie gleichsam unwillkürlich einathmeten, ihre verderblichen Wirkungen. Die Sittenlosigkeit in alte» Perioden der Kaiserherrschnft, über welche wir genauer unterrichtet sind, ist auch in den schlimmsten Zeiten schwerlich überboten worden. An die sittliche Fäulnis; der ersteren Periode wird man durch die römische Literatur des ersten Jahrhunderts mehrfach erinnert; am meisten durch Ovid, dessen Gedichte zum Theil wörtlich in Paris geschrieben sein könnten, wie es vor hundert Jahren war. „Allzu bäurisch ist der," heißt es unter andern, „den die Leidenschaften seiner Frau ärgern, er kennt die Sitten Roms noch nicht genug; bist du klug, so übe Nachsicht gegen deine Dame (eloimua,), lege die finstere Miene ab und bestehe nicht streng auf den Rechten des Gemahls; sei zuvorkommend gegen die Freunde, die deine Frau dir verschafft, sie wird dir viele verschaffen. So wird Gunst mit sehr geringer Mühe erkauft. So wirst du immer zu den Festen geladen werden, die junge Männer veranstalten, und vieles im Hause haben, wofür du nicht bezahlt haft." In einer andern Elegie fordert der Liebhaber den Mann auf, die Frau sorgfältiger zu bewah¬ ren, und ihm überhaupt mehr Schwierigkeiten in den Weg zu legen. Habe man gar keine zu überwinden, so sei das Verhältniß nicht pikant genug und malt werde es bald überdrüssig. — Zu den corrumpirenden Einflüssen, welche die schone Literatur übte, gesellte sich die schlimmste Entartung der Bühne, wo die Posse (munu^), voll der größten Unzüchtigkeiten das große Publicum, das auf raffinirten Sinnenkitzel berechnete Ballet (Mutoiiümudi) die seine Welt ergötzte. Aehnlichen oder noch schlimmeren Schauspielen waren die Frauen bei Gast¬ mählern ausgesetzt. Die Verlockungen der Schauspiele, die Aufregungen der Gastmähler nennt Tncituö nebeneinander als die Hauptgefahrcn für Unschuld und Sittenreinheit. Was auf der Bühne gewagt werdet! durfte, stand den bildenden Künsten um so mehr frei. Schon Properz klagt über die Bilder, die man jetzt an den Wänden sehe, und welche die unschuldigen Augen der Frauen und Mädchen verderben. So wuchs ans allen Seite» mit dem Verfall der Sitten die Licenz, und die Licenz der Literatur, der ,^unse und der Bühne trug wieder zur Steigerung der Berbcrbniß bei. Bon dieser Berderbniß war mindestens die große tonangebende Mehrzahl Roms im ersten Jahrhundert ergriffen. Dieser Mehrzahl war das Laster Gegenstand des Scherzes, galt Frauentngcnd (wenn sie überhaupt an deren Existenz glaubte) als ländliche Einfalt, eheliche Treue als lächerliche Pedanterie,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/40>, abgerufen am 21.12.2024.