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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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auf der Gasse zu predigen und an den Staat die Zumuthung stellten, er solle
jeden gemüthlichen Einfall, den ihnen irgend ein Dämon eingab, augenblick¬
lich verwirklichen.

Hier ist eine Bemerkung einzuschalten. die man häusig übersieht und die
doch von der größten Wichtigkeit ist, wenn man sich nicht der verkehrtesten
Urtheile schuldig machen will. Jeder aufrichtige Freund des Vaterlandes und
der Menschheit hat das Recht, auch die größte, die schönste Erscheinung an¬
zufechten, sobald etwas in ihr enthalten sse, was die Gesundheit des Volks
vergiftet. Nur die weinerlichen schwachmüthigem Jünger der Romantik werden
Messing tadeln, daß er zum Werther, dessen poetische Kraft er keinen Augen¬
blick verkannte, einen curischen Schluß wünschte. Aber man muß euren ge¬
waltigen Unterschied machen zwischen den Schöpfungen, die mit unmittelbarer
Frische aus der Seele hervorquellen, die mau daher als nothwendige Natur¬
erscheinungen begreifen muß, und den Kunstwerken der bloßen Reflexion, die
dem Strom des Geschmacks folgen, ohne ein inneres Leben zu enthalten: man
muß einen gewaltigen Unterschied machen zwischen Goethes Wilhelm Meister
und Immermanns Epigonen, obgleich beide in dieselbe Classe gehören. In
unserer Zeit ist es nicht die innere Nothwendigkeit des Gemüths, die zu ähn¬
lichen Verirrungen führt, sondern die falsche Geschmacksbildung, oder gradezu
die Reminiscenz.

Wir haben vor einigen Jahren, als wir noch sehr lebhaft die Nachwehen
der sogenannten Revolution von 1848 empfanden, an einem damals viel¬
gelesenen und vielgefeierten Roman, an Gutzkows Rittern vom Geist,
ein strenges Gericht ausgeübt, nicht um den Dichter zu bekämpfen, der immer
noch talentvoller ist als viele andere, sondern eine Krankheit, die sich ans einer
acuten in eine chronische zu verwandeln drohte. In den Rittern vom Geist
waren die Enkel von Karl Moor, von Werther, von Faust und all den
übrigen Selbstquälern versammelt, die ungleich ihren Vorfahren an der un-
mittelbaren Verbesserung der öffentlichen Zustände arbeiteten. Voll von geist¬
reichen Einfällen, von unklaren Velleitäten, waren sie in Bezug auf ihre
Ideale so liberal, daß sie die entgegengesetzten Richtungen in sich aufnahmen,
wenn sie nur von geistreichen Persönlichkeiten getragen wurden. Daß dieses
Geschlecht der Ritter vom Geist noch nicht ausgestorben ist, darüber belehrt
uns auf eine erschreckende Weise der neue Roman. Deutsche Träume.

Der Verfasser erfreut sich eines geachteten Namens, er hat sich als anti¬
quarischer Fischer und als liebenswürdiger Tourist ein gerechtes Ansehen er¬
worben, im Fach der Novelle scheint dies sein erster Versuch zu sein. Nur
im Vorbeigehn wollen wir bemerken, daß sich einzelne sehr ansprechende Bil¬
der, treffende Zeichnungen namentlich satirischer Art und interessante Be-
merkungen darin vorfinden. Die Komposition erhebt sich nicht über das ge-


Gn'nzdoten II. 1358. 38

auf der Gasse zu predigen und an den Staat die Zumuthung stellten, er solle
jeden gemüthlichen Einfall, den ihnen irgend ein Dämon eingab, augenblick¬
lich verwirklichen.

Hier ist eine Bemerkung einzuschalten. die man häusig übersieht und die
doch von der größten Wichtigkeit ist, wenn man sich nicht der verkehrtesten
Urtheile schuldig machen will. Jeder aufrichtige Freund des Vaterlandes und
der Menschheit hat das Recht, auch die größte, die schönste Erscheinung an¬
zufechten, sobald etwas in ihr enthalten sse, was die Gesundheit des Volks
vergiftet. Nur die weinerlichen schwachmüthigem Jünger der Romantik werden
Messing tadeln, daß er zum Werther, dessen poetische Kraft er keinen Augen¬
blick verkannte, einen curischen Schluß wünschte. Aber man muß euren ge¬
waltigen Unterschied machen zwischen den Schöpfungen, die mit unmittelbarer
Frische aus der Seele hervorquellen, die mau daher als nothwendige Natur¬
erscheinungen begreifen muß, und den Kunstwerken der bloßen Reflexion, die
dem Strom des Geschmacks folgen, ohne ein inneres Leben zu enthalten: man
muß einen gewaltigen Unterschied machen zwischen Goethes Wilhelm Meister
und Immermanns Epigonen, obgleich beide in dieselbe Classe gehören. In
unserer Zeit ist es nicht die innere Nothwendigkeit des Gemüths, die zu ähn¬
lichen Verirrungen führt, sondern die falsche Geschmacksbildung, oder gradezu
die Reminiscenz.

Wir haben vor einigen Jahren, als wir noch sehr lebhaft die Nachwehen
der sogenannten Revolution von 1848 empfanden, an einem damals viel¬
gelesenen und vielgefeierten Roman, an Gutzkows Rittern vom Geist,
ein strenges Gericht ausgeübt, nicht um den Dichter zu bekämpfen, der immer
noch talentvoller ist als viele andere, sondern eine Krankheit, die sich ans einer
acuten in eine chronische zu verwandeln drohte. In den Rittern vom Geist
waren die Enkel von Karl Moor, von Werther, von Faust und all den
übrigen Selbstquälern versammelt, die ungleich ihren Vorfahren an der un-
mittelbaren Verbesserung der öffentlichen Zustände arbeiteten. Voll von geist¬
reichen Einfällen, von unklaren Velleitäten, waren sie in Bezug auf ihre
Ideale so liberal, daß sie die entgegengesetzten Richtungen in sich aufnahmen,
wenn sie nur von geistreichen Persönlichkeiten getragen wurden. Daß dieses
Geschlecht der Ritter vom Geist noch nicht ausgestorben ist, darüber belehrt
uns auf eine erschreckende Weise der neue Roman. Deutsche Träume.

Der Verfasser erfreut sich eines geachteten Namens, er hat sich als anti¬
quarischer Fischer und als liebenswürdiger Tourist ein gerechtes Ansehen er¬
worben, im Fach der Novelle scheint dies sein erster Versuch zu sein. Nur
im Vorbeigehn wollen wir bemerken, daß sich einzelne sehr ansprechende Bil¬
der, treffende Zeichnungen namentlich satirischer Art und interessante Be-
merkungen darin vorfinden. Die Komposition erhebt sich nicht über das ge-


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[0305] auf der Gasse zu predigen und an den Staat die Zumuthung stellten, er solle jeden gemüthlichen Einfall, den ihnen irgend ein Dämon eingab, augenblick¬ lich verwirklichen. Hier ist eine Bemerkung einzuschalten. die man häusig übersieht und die doch von der größten Wichtigkeit ist, wenn man sich nicht der verkehrtesten Urtheile schuldig machen will. Jeder aufrichtige Freund des Vaterlandes und der Menschheit hat das Recht, auch die größte, die schönste Erscheinung an¬ zufechten, sobald etwas in ihr enthalten sse, was die Gesundheit des Volks vergiftet. Nur die weinerlichen schwachmüthigem Jünger der Romantik werden Messing tadeln, daß er zum Werther, dessen poetische Kraft er keinen Augen¬ blick verkannte, einen curischen Schluß wünschte. Aber man muß euren ge¬ waltigen Unterschied machen zwischen den Schöpfungen, die mit unmittelbarer Frische aus der Seele hervorquellen, die mau daher als nothwendige Natur¬ erscheinungen begreifen muß, und den Kunstwerken der bloßen Reflexion, die dem Strom des Geschmacks folgen, ohne ein inneres Leben zu enthalten: man muß einen gewaltigen Unterschied machen zwischen Goethes Wilhelm Meister und Immermanns Epigonen, obgleich beide in dieselbe Classe gehören. In unserer Zeit ist es nicht die innere Nothwendigkeit des Gemüths, die zu ähn¬ lichen Verirrungen führt, sondern die falsche Geschmacksbildung, oder gradezu die Reminiscenz. Wir haben vor einigen Jahren, als wir noch sehr lebhaft die Nachwehen der sogenannten Revolution von 1848 empfanden, an einem damals viel¬ gelesenen und vielgefeierten Roman, an Gutzkows Rittern vom Geist, ein strenges Gericht ausgeübt, nicht um den Dichter zu bekämpfen, der immer noch talentvoller ist als viele andere, sondern eine Krankheit, die sich ans einer acuten in eine chronische zu verwandeln drohte. In den Rittern vom Geist waren die Enkel von Karl Moor, von Werther, von Faust und all den übrigen Selbstquälern versammelt, die ungleich ihren Vorfahren an der un- mittelbaren Verbesserung der öffentlichen Zustände arbeiteten. Voll von geist¬ reichen Einfällen, von unklaren Velleitäten, waren sie in Bezug auf ihre Ideale so liberal, daß sie die entgegengesetzten Richtungen in sich aufnahmen, wenn sie nur von geistreichen Persönlichkeiten getragen wurden. Daß dieses Geschlecht der Ritter vom Geist noch nicht ausgestorben ist, darüber belehrt uns auf eine erschreckende Weise der neue Roman. Deutsche Träume. Der Verfasser erfreut sich eines geachteten Namens, er hat sich als anti¬ quarischer Fischer und als liebenswürdiger Tourist ein gerechtes Ansehen er¬ worben, im Fach der Novelle scheint dies sein erster Versuch zu sein. Nur im Vorbeigehn wollen wir bemerken, daß sich einzelne sehr ansprechende Bil¬ der, treffende Zeichnungen namentlich satirischer Art und interessante Be- merkungen darin vorfinden. Die Komposition erhebt sich nicht über das ge- Gn'nzdoten II. 1358. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/305>, abgerufen am 22.12.2024.