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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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liegt zwischen diesem Bekenntniß und den Göttern Griechenlands; und in
diesem einen Jahr hat sich seine Weltanschauung mit der Geschichte und der
Gegenwart ausgesöhnt und den letzten Mißklang, der sie noch störte, harmonisch
gelöst." -- Was aber noch viel merkwürdiger ist, jene Stelle ist überhaupt gar
nicht vor den Künstlern, sondern nach den Künstlern geschrieben, denn sie
steht erst in der zweiten Ausgabe des Gedichts. Zu dieser Ungenauigkeit hat
sich Fischer durch sein Streben verleiten lassen, bei Schiller einen ununter¬
brochenen folgerichtigen Fortschritt zu einer immer richtigern Lebensauffassung
nachzuweisen. Dieses wohlgemeinte Bestreben läßt sich nicht durchführen, weder
in den lyrischen Gedichten, wo das mystische Reich der Schatten, das vom
Künstler eine fast brahminenartige Abstraction fordert, in eine ziemlich späte
Zeit fällt, noch in dem Drama, wo die Braut von Messina und die Jung¬
frau von Orleans auf den Wallenstein folgen. Selbst Wallenstein ist unter
den Händen des Dichters nicht ganz das geworden, was er werden sollte.
Auch bei ihm mischt sich das Idyll nicht selten verwirrend in den Heroismus
und die Staatsklugheit.

Wir möchten überhaupt den ungeheuren Fortschritt, der sich in Schillers
dichterischer Entwicklung augenscheinlich kund gibt, nicht in dem Stoff, nicht
in der Lebensauffassung, sondern in der Kunstform suchen. Es ist schade,
daß Fischer in der Charakteristik der ältern Dramen nur die eine Seite ins
Auge gefaßt hat, nur die Beziehung zum Ideal der Menschheit, während er
die Betrachtung der Kunstform ganz hintansetzt. Was er hier von Schiller
sagt, könnte man mit demselben Recht ans Goethe anwenden. Auch Goethe
hat im Grunde nur große Konfessionen gegeben. Zuerst den Götz, Werther,
Faust, Prometheus; den Clavigo, Egmont, die Mitschuldigen (denn diese ge¬
hören auch dazu); dann in der zweiten Periode Tasso, Meister, Iphigenie;
endlich in der dritten die Wahlverwandtschaften und Wanderjahre. Auch
Goethe ging wie Schiller aus der Hitze des Titauismus zuerst zur Schatten¬
welt der Antike, dann wenigstens in der Tendenz zum modernen realistischen
Leben über, aber bei ihm werden wir sehr unschlüssig sein, welcher Periode
wir den Preis zuerthcilen; sür die dritte Periode wird sich niemand, die
meisten für die erste erklären. Die dichterische Kraft strömte in seiner frühsten
Jugend mit einer so unwiderstehlichen Gewalt aus seinem Herzen hervor, daß
man kaum die vollendete Reife der Bildung vermißt. Sein poetischer Aus¬
druck ist vollkommen, nicht blos für den Augenblick hinreißend, sondern durch
seine ewige Wahrheit überwältigend, seine Einsicht hat sich später unendlich
erweitert, aber mau kann kaum sagen, daß sie sich vertieft hat.

Ganz anders bei Schiller. Ein außerordentliches dramatisches, nament¬
lich theatralisches Talent läßt sich in seinen vier ersten Stücken nicht verken¬
nen, aber im Uebrigen läßt sich auf sie wie auf seine früheste Lyrik das Wort


liegt zwischen diesem Bekenntniß und den Göttern Griechenlands; und in
diesem einen Jahr hat sich seine Weltanschauung mit der Geschichte und der
Gegenwart ausgesöhnt und den letzten Mißklang, der sie noch störte, harmonisch
gelöst." — Was aber noch viel merkwürdiger ist, jene Stelle ist überhaupt gar
nicht vor den Künstlern, sondern nach den Künstlern geschrieben, denn sie
steht erst in der zweiten Ausgabe des Gedichts. Zu dieser Ungenauigkeit hat
sich Fischer durch sein Streben verleiten lassen, bei Schiller einen ununter¬
brochenen folgerichtigen Fortschritt zu einer immer richtigern Lebensauffassung
nachzuweisen. Dieses wohlgemeinte Bestreben läßt sich nicht durchführen, weder
in den lyrischen Gedichten, wo das mystische Reich der Schatten, das vom
Künstler eine fast brahminenartige Abstraction fordert, in eine ziemlich späte
Zeit fällt, noch in dem Drama, wo die Braut von Messina und die Jung¬
frau von Orleans auf den Wallenstein folgen. Selbst Wallenstein ist unter
den Händen des Dichters nicht ganz das geworden, was er werden sollte.
Auch bei ihm mischt sich das Idyll nicht selten verwirrend in den Heroismus
und die Staatsklugheit.

Wir möchten überhaupt den ungeheuren Fortschritt, der sich in Schillers
dichterischer Entwicklung augenscheinlich kund gibt, nicht in dem Stoff, nicht
in der Lebensauffassung, sondern in der Kunstform suchen. Es ist schade,
daß Fischer in der Charakteristik der ältern Dramen nur die eine Seite ins
Auge gefaßt hat, nur die Beziehung zum Ideal der Menschheit, während er
die Betrachtung der Kunstform ganz hintansetzt. Was er hier von Schiller
sagt, könnte man mit demselben Recht ans Goethe anwenden. Auch Goethe
hat im Grunde nur große Konfessionen gegeben. Zuerst den Götz, Werther,
Faust, Prometheus; den Clavigo, Egmont, die Mitschuldigen (denn diese ge¬
hören auch dazu); dann in der zweiten Periode Tasso, Meister, Iphigenie;
endlich in der dritten die Wahlverwandtschaften und Wanderjahre. Auch
Goethe ging wie Schiller aus der Hitze des Titauismus zuerst zur Schatten¬
welt der Antike, dann wenigstens in der Tendenz zum modernen realistischen
Leben über, aber bei ihm werden wir sehr unschlüssig sein, welcher Periode
wir den Preis zuerthcilen; sür die dritte Periode wird sich niemand, die
meisten für die erste erklären. Die dichterische Kraft strömte in seiner frühsten
Jugend mit einer so unwiderstehlichen Gewalt aus seinem Herzen hervor, daß
man kaum die vollendete Reife der Bildung vermißt. Sein poetischer Aus¬
druck ist vollkommen, nicht blos für den Augenblick hinreißend, sondern durch
seine ewige Wahrheit überwältigend, seine Einsicht hat sich später unendlich
erweitert, aber mau kann kaum sagen, daß sie sich vertieft hat.

Ganz anders bei Schiller. Ein außerordentliches dramatisches, nament¬
lich theatralisches Talent läßt sich in seinen vier ersten Stücken nicht verken¬
nen, aber im Uebrigen läßt sich auf sie wie auf seine früheste Lyrik das Wort


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[0302] liegt zwischen diesem Bekenntniß und den Göttern Griechenlands; und in diesem einen Jahr hat sich seine Weltanschauung mit der Geschichte und der Gegenwart ausgesöhnt und den letzten Mißklang, der sie noch störte, harmonisch gelöst." — Was aber noch viel merkwürdiger ist, jene Stelle ist überhaupt gar nicht vor den Künstlern, sondern nach den Künstlern geschrieben, denn sie steht erst in der zweiten Ausgabe des Gedichts. Zu dieser Ungenauigkeit hat sich Fischer durch sein Streben verleiten lassen, bei Schiller einen ununter¬ brochenen folgerichtigen Fortschritt zu einer immer richtigern Lebensauffassung nachzuweisen. Dieses wohlgemeinte Bestreben läßt sich nicht durchführen, weder in den lyrischen Gedichten, wo das mystische Reich der Schatten, das vom Künstler eine fast brahminenartige Abstraction fordert, in eine ziemlich späte Zeit fällt, noch in dem Drama, wo die Braut von Messina und die Jung¬ frau von Orleans auf den Wallenstein folgen. Selbst Wallenstein ist unter den Händen des Dichters nicht ganz das geworden, was er werden sollte. Auch bei ihm mischt sich das Idyll nicht selten verwirrend in den Heroismus und die Staatsklugheit. Wir möchten überhaupt den ungeheuren Fortschritt, der sich in Schillers dichterischer Entwicklung augenscheinlich kund gibt, nicht in dem Stoff, nicht in der Lebensauffassung, sondern in der Kunstform suchen. Es ist schade, daß Fischer in der Charakteristik der ältern Dramen nur die eine Seite ins Auge gefaßt hat, nur die Beziehung zum Ideal der Menschheit, während er die Betrachtung der Kunstform ganz hintansetzt. Was er hier von Schiller sagt, könnte man mit demselben Recht ans Goethe anwenden. Auch Goethe hat im Grunde nur große Konfessionen gegeben. Zuerst den Götz, Werther, Faust, Prometheus; den Clavigo, Egmont, die Mitschuldigen (denn diese ge¬ hören auch dazu); dann in der zweiten Periode Tasso, Meister, Iphigenie; endlich in der dritten die Wahlverwandtschaften und Wanderjahre. Auch Goethe ging wie Schiller aus der Hitze des Titauismus zuerst zur Schatten¬ welt der Antike, dann wenigstens in der Tendenz zum modernen realistischen Leben über, aber bei ihm werden wir sehr unschlüssig sein, welcher Periode wir den Preis zuerthcilen; sür die dritte Periode wird sich niemand, die meisten für die erste erklären. Die dichterische Kraft strömte in seiner frühsten Jugend mit einer so unwiderstehlichen Gewalt aus seinem Herzen hervor, daß man kaum die vollendete Reife der Bildung vermißt. Sein poetischer Aus¬ druck ist vollkommen, nicht blos für den Augenblick hinreißend, sondern durch seine ewige Wahrheit überwältigend, seine Einsicht hat sich später unendlich erweitert, aber mau kann kaum sagen, daß sie sich vertieft hat. Ganz anders bei Schiller. Ein außerordentliches dramatisches, nament¬ lich theatralisches Talent läßt sich in seinen vier ersten Stücken nicht verken¬ nen, aber im Uebrigen läßt sich auf sie wie auf seine früheste Lyrik das Wort

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/302>, abgerufen am 22.12.2024.