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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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aus einzelnen abgerissenen Notizen hervorgehen; man sieht es um so mehr,
da er sich hier zum erstenmal in der Universalgeschichte bemüht, auch die
Personen zu charat'terisiren. Selbst die Sprache hat etwas Embryonisches;
aber das Material für die Porträts ist vortrefflich, und wenn man die Dar¬
stellung von Karl 5, Luther. Philipp 2,, den Jesuiten u. s. w. mit den viel
feiner ausgeführten Bildern Nantes vergleicht, so entdeckt man eine auf¬
fallende Verwandtschaft Ranke hat es viel geschickter verstanden, die Spuren
seiner Farbenmischung zu verwischen, während Müller offen die Palette vor¬
weist. Nantes Hauptquelle. die venetianischen Gesandtschastsberichte, waren
auch Müllers Lieblingslectüre und das Urtheil ist bei beiden Schriftstellern
von einer staunenswerthen Objectivität. Doch bleibt Müller im Wesentlichen
seinein Princip getreu und verräth bei seiner Würdigung Luthers, wie die
Mystik ihn nur oberflächlich berührt hat. Luther wurde, wie es in Revolutio¬
nen leicht geschieht, hauptsächlich durch Widerspruch und Widerstand viel weiter
gebracht, als er anfangs gehen wollte und seine Sache wurde unüberwindlich,
so bald sie Sache der Nation wurde. Im Uebrigen war sein Werk, wie alle
gute Neligionsstiftungen, eigentlich negativ; er lehrte nichts Neues (was kann
der Mensch von übersinnlichen Dingen mehr wissen, als in seinen Ueber¬
lieferungen, Wünschen und Gefühlen von jeher war?), hingegen zerstörte er
ein großes Theil der fremden Bekleidung, womit in finstern Zeiten die Wahr¬
heit verhüllt, und wirklich fast unsichtbar gemacht worden. Was er stehen
ließ (weil die ungeübten Blicke für den vollen Glanz zu schwach waren), das
gab er den Zeiten'einer spätern Reife hin. -- Die Ironie, mit welcher der
Anhänger des Humanitätsprincips ') sich über die theologischen Streitfragen
ausspricht, gleichviel in welcher Partei sie vorfallen, hat mitunter etwas sehr
Liebenswürdiges. Zuletzt empfängt man aber doch nur ein Bild vollständiger
Verwirrung. -- Die durch Perus Goldgruben bewirkte Revolution im Handel
und in den Machtverhältnissen war im Gang, doch unentwickelt. Der mensch¬
liche Geist, kühner, Heller als vormals, aber mit Streitfragen, die sich nicht
ausmachen lassen, zu viel beschäftigt, war in Bewegung. Große Veränderungen
hatte das Jahrhundert seit Ludwig 11. gesehen; allgemeinere ließen sich er¬
warten, nichts war in rechter Haltung; die großen Mächte waren durch die
Masse ihrer Staaten schreckbarer, als geschickt, sie zu beleben, sie zu leiten und
sich ihrer zu bedienen. -- Mit vorzüglicher Aufmerksamkeit verfolgt er von da
an die Fortschritte der Kriegs- und Finanzwissenschaft, die beiden wichtigsten
Hebel des modernen Absolutismus. Mit Grauen sieht er die immerwachsende



') Erasmus Schreiben an den dahier Rath nennt er (Su, März ^t800) "ein wahres
Meisterstück der Klugheit eines Mannes, der, ohne etwas der Wahrheit zu vergeben, sich außer
den Revvlutionshändcl" halten wollte, für die er sich nicht gemacht fühlte. Es sollte unser
einem allezeit vor Augen sein."

aus einzelnen abgerissenen Notizen hervorgehen; man sieht es um so mehr,
da er sich hier zum erstenmal in der Universalgeschichte bemüht, auch die
Personen zu charat'terisiren. Selbst die Sprache hat etwas Embryonisches;
aber das Material für die Porträts ist vortrefflich, und wenn man die Dar¬
stellung von Karl 5, Luther. Philipp 2,, den Jesuiten u. s. w. mit den viel
feiner ausgeführten Bildern Nantes vergleicht, so entdeckt man eine auf¬
fallende Verwandtschaft Ranke hat es viel geschickter verstanden, die Spuren
seiner Farbenmischung zu verwischen, während Müller offen die Palette vor¬
weist. Nantes Hauptquelle. die venetianischen Gesandtschastsberichte, waren
auch Müllers Lieblingslectüre und das Urtheil ist bei beiden Schriftstellern
von einer staunenswerthen Objectivität. Doch bleibt Müller im Wesentlichen
seinein Princip getreu und verräth bei seiner Würdigung Luthers, wie die
Mystik ihn nur oberflächlich berührt hat. Luther wurde, wie es in Revolutio¬
nen leicht geschieht, hauptsächlich durch Widerspruch und Widerstand viel weiter
gebracht, als er anfangs gehen wollte und seine Sache wurde unüberwindlich,
so bald sie Sache der Nation wurde. Im Uebrigen war sein Werk, wie alle
gute Neligionsstiftungen, eigentlich negativ; er lehrte nichts Neues (was kann
der Mensch von übersinnlichen Dingen mehr wissen, als in seinen Ueber¬
lieferungen, Wünschen und Gefühlen von jeher war?), hingegen zerstörte er
ein großes Theil der fremden Bekleidung, womit in finstern Zeiten die Wahr¬
heit verhüllt, und wirklich fast unsichtbar gemacht worden. Was er stehen
ließ (weil die ungeübten Blicke für den vollen Glanz zu schwach waren), das
gab er den Zeiten'einer spätern Reife hin. — Die Ironie, mit welcher der
Anhänger des Humanitätsprincips ') sich über die theologischen Streitfragen
ausspricht, gleichviel in welcher Partei sie vorfallen, hat mitunter etwas sehr
Liebenswürdiges. Zuletzt empfängt man aber doch nur ein Bild vollständiger
Verwirrung. — Die durch Perus Goldgruben bewirkte Revolution im Handel
und in den Machtverhältnissen war im Gang, doch unentwickelt. Der mensch¬
liche Geist, kühner, Heller als vormals, aber mit Streitfragen, die sich nicht
ausmachen lassen, zu viel beschäftigt, war in Bewegung. Große Veränderungen
hatte das Jahrhundert seit Ludwig 11. gesehen; allgemeinere ließen sich er¬
warten, nichts war in rechter Haltung; die großen Mächte waren durch die
Masse ihrer Staaten schreckbarer, als geschickt, sie zu beleben, sie zu leiten und
sich ihrer zu bedienen. — Mit vorzüglicher Aufmerksamkeit verfolgt er von da
an die Fortschritte der Kriegs- und Finanzwissenschaft, die beiden wichtigsten
Hebel des modernen Absolutismus. Mit Grauen sieht er die immerwachsende



') Erasmus Schreiben an den dahier Rath nennt er (Su, März ^t800) „ein wahres
Meisterstück der Klugheit eines Mannes, der, ohne etwas der Wahrheit zu vergeben, sich außer
den Revvlutionshändcl» halten wollte, für die er sich nicht gemacht fühlte. Es sollte unser
einem allezeit vor Augen sein."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/282>, abgerufen am 22.12.2024.