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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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östreichischer Papiere um wenige Procente. eine Vermehrung von Oestreichs jähr¬
lichem Deficit und zuletzt das traurige Ende: Kriegsgerichte. Fusiladen. Aber
die Gegenwart wird dadurch bedenklicher, daß auch der Zündstoff zwischen den
einzelnen Staaten Italiens sich wieder in Massen angehäuft hat, und daß
andre Mißstände, wie alt sie sein mögen, in ihrer Unerträglichkeit immer all¬
gemeiner gefühlt werden.

Die Händel zwischen Sardinien und Neapel in der Cagliariangelegen-.
heit sind bekannt. Mit Recht ist die sardinische Regierung verletzt über die
Ungeheuerlichkeiten der englischen Diplomatie. Der Scandal Erskine und
noch mehr die Schwäche der englischen Ministerien, welche in der That nicht
die Vertreter, sondern die Diener der öffentlichen Meinung und zuweilen der
Zeitungspresse geworden sind, wird dem Staate Sardinien voraussichtlich in
der nächsten Zukunft eine zuverlässige und warme Unterstützung durch England
entziehen. Bei seiner gespannten Stellung zu Oestreich und den großen Aus¬
gaben, welche ihm feine Stellung zu Italien nahegelegt hat, kann aber
Sardinien mächtige Bundcsgenossenschaften gar nicht entbehren. Um sie zu
erwerben, hat es das Blut seiner Soldaten in der Krim für eine fremde
Sache vergossen. Jetzt grade, wo der englische Egoismus in Turin kraftlos
und perfid erschien, war der Regierung Gelegenheit gegeben, den Herrscher
Frankreichs zuvorkommend durch ein Gesetz zu verbinden, welches zum Schutz
seiner Person gegeben wird. Die officiellen Beziehungen zu Frankreich sind
vorzugsweise warm.

Aber trotzdem wird in Sardinien keinen Augenblick vergessen, daß Eng¬
land im Grunde der einzige zuverlässige Alliirte und Frankreich ein versteckter
Gegner ist, daß der Kaiser eine Vergrößerung des französische" Gebietes lei¬
denschaftlich wünscht, und daß diese Vergrößerung doch nur in Savoyen be¬
stehen kann; und diese Landschaft, wie hinderlich sie auch den modernen Re¬
formen Sardiniens ist, darf die Regierung zu Turin auch gegen werthvollere
Entschädigungen nicht vertauschen. Denn abgesehen von den Traditionen der
regierenden Familie, welche an dem alten Herzogthum hängen, würde Sar¬
dinien seine ganze italienische Zukunft verspielen, wenn es gleich im Anfang
eine italienische Landschaft einsetzen wollte. So ist vorauszusehen, daß trotz
aller diplomatischen Verstimmungen das Cabinet Cavour und jedes folgende
seinen besten Stützpunkt in London und nicht in Paris suchen wird. Der
zweite wird einst Preußen sein müssen.

In dem östreichischen Italien darf man die letzten wohlmeinenden Ver¬
suche Oestreichs, durch einen Prinzen des kaiserlichen Hauses Versöhnung und
eine neue Zeit heraufzuführen, als gescheitert betrachten. Der passive Wider¬
stand der Lombarden hat nichts an seiner Zähigkeit verloren. Der Brief
Orsinis hat grade dort eine stille Aufregung hervorgebracht, und wenn die


östreichischer Papiere um wenige Procente. eine Vermehrung von Oestreichs jähr¬
lichem Deficit und zuletzt das traurige Ende: Kriegsgerichte. Fusiladen. Aber
die Gegenwart wird dadurch bedenklicher, daß auch der Zündstoff zwischen den
einzelnen Staaten Italiens sich wieder in Massen angehäuft hat, und daß
andre Mißstände, wie alt sie sein mögen, in ihrer Unerträglichkeit immer all¬
gemeiner gefühlt werden.

Die Händel zwischen Sardinien und Neapel in der Cagliariangelegen-.
heit sind bekannt. Mit Recht ist die sardinische Regierung verletzt über die
Ungeheuerlichkeiten der englischen Diplomatie. Der Scandal Erskine und
noch mehr die Schwäche der englischen Ministerien, welche in der That nicht
die Vertreter, sondern die Diener der öffentlichen Meinung und zuweilen der
Zeitungspresse geworden sind, wird dem Staate Sardinien voraussichtlich in
der nächsten Zukunft eine zuverlässige und warme Unterstützung durch England
entziehen. Bei seiner gespannten Stellung zu Oestreich und den großen Aus¬
gaben, welche ihm feine Stellung zu Italien nahegelegt hat, kann aber
Sardinien mächtige Bundcsgenossenschaften gar nicht entbehren. Um sie zu
erwerben, hat es das Blut seiner Soldaten in der Krim für eine fremde
Sache vergossen. Jetzt grade, wo der englische Egoismus in Turin kraftlos
und perfid erschien, war der Regierung Gelegenheit gegeben, den Herrscher
Frankreichs zuvorkommend durch ein Gesetz zu verbinden, welches zum Schutz
seiner Person gegeben wird. Die officiellen Beziehungen zu Frankreich sind
vorzugsweise warm.

Aber trotzdem wird in Sardinien keinen Augenblick vergessen, daß Eng¬
land im Grunde der einzige zuverlässige Alliirte und Frankreich ein versteckter
Gegner ist, daß der Kaiser eine Vergrößerung des französische» Gebietes lei¬
denschaftlich wünscht, und daß diese Vergrößerung doch nur in Savoyen be¬
stehen kann; und diese Landschaft, wie hinderlich sie auch den modernen Re¬
formen Sardiniens ist, darf die Regierung zu Turin auch gegen werthvollere
Entschädigungen nicht vertauschen. Denn abgesehen von den Traditionen der
regierenden Familie, welche an dem alten Herzogthum hängen, würde Sar¬
dinien seine ganze italienische Zukunft verspielen, wenn es gleich im Anfang
eine italienische Landschaft einsetzen wollte. So ist vorauszusehen, daß trotz
aller diplomatischen Verstimmungen das Cabinet Cavour und jedes folgende
seinen besten Stützpunkt in London und nicht in Paris suchen wird. Der
zweite wird einst Preußen sein müssen.

In dem östreichischen Italien darf man die letzten wohlmeinenden Ver¬
suche Oestreichs, durch einen Prinzen des kaiserlichen Hauses Versöhnung und
eine neue Zeit heraufzuführen, als gescheitert betrachten. Der passive Wider¬
stand der Lombarden hat nichts an seiner Zähigkeit verloren. Der Brief
Orsinis hat grade dort eine stille Aufregung hervorgebracht, und wenn die


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[0263] östreichischer Papiere um wenige Procente. eine Vermehrung von Oestreichs jähr¬ lichem Deficit und zuletzt das traurige Ende: Kriegsgerichte. Fusiladen. Aber die Gegenwart wird dadurch bedenklicher, daß auch der Zündstoff zwischen den einzelnen Staaten Italiens sich wieder in Massen angehäuft hat, und daß andre Mißstände, wie alt sie sein mögen, in ihrer Unerträglichkeit immer all¬ gemeiner gefühlt werden. Die Händel zwischen Sardinien und Neapel in der Cagliariangelegen-. heit sind bekannt. Mit Recht ist die sardinische Regierung verletzt über die Ungeheuerlichkeiten der englischen Diplomatie. Der Scandal Erskine und noch mehr die Schwäche der englischen Ministerien, welche in der That nicht die Vertreter, sondern die Diener der öffentlichen Meinung und zuweilen der Zeitungspresse geworden sind, wird dem Staate Sardinien voraussichtlich in der nächsten Zukunft eine zuverlässige und warme Unterstützung durch England entziehen. Bei seiner gespannten Stellung zu Oestreich und den großen Aus¬ gaben, welche ihm feine Stellung zu Italien nahegelegt hat, kann aber Sardinien mächtige Bundcsgenossenschaften gar nicht entbehren. Um sie zu erwerben, hat es das Blut seiner Soldaten in der Krim für eine fremde Sache vergossen. Jetzt grade, wo der englische Egoismus in Turin kraftlos und perfid erschien, war der Regierung Gelegenheit gegeben, den Herrscher Frankreichs zuvorkommend durch ein Gesetz zu verbinden, welches zum Schutz seiner Person gegeben wird. Die officiellen Beziehungen zu Frankreich sind vorzugsweise warm. Aber trotzdem wird in Sardinien keinen Augenblick vergessen, daß Eng¬ land im Grunde der einzige zuverlässige Alliirte und Frankreich ein versteckter Gegner ist, daß der Kaiser eine Vergrößerung des französische» Gebietes lei¬ denschaftlich wünscht, und daß diese Vergrößerung doch nur in Savoyen be¬ stehen kann; und diese Landschaft, wie hinderlich sie auch den modernen Re¬ formen Sardiniens ist, darf die Regierung zu Turin auch gegen werthvollere Entschädigungen nicht vertauschen. Denn abgesehen von den Traditionen der regierenden Familie, welche an dem alten Herzogthum hängen, würde Sar¬ dinien seine ganze italienische Zukunft verspielen, wenn es gleich im Anfang eine italienische Landschaft einsetzen wollte. So ist vorauszusehen, daß trotz aller diplomatischen Verstimmungen das Cabinet Cavour und jedes folgende seinen besten Stützpunkt in London und nicht in Paris suchen wird. Der zweite wird einst Preußen sein müssen. In dem östreichischen Italien darf man die letzten wohlmeinenden Ver¬ suche Oestreichs, durch einen Prinzen des kaiserlichen Hauses Versöhnung und eine neue Zeit heraufzuführen, als gescheitert betrachten. Der passive Wider¬ stand der Lombarden hat nichts an seiner Zähigkeit verloren. Der Brief Orsinis hat grade dort eine stille Aufregung hervorgebracht, und wenn die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/263>, abgerufen am 22.12.2024.