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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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Inspirationen erweckt, als in der Kirchengeschichte registrirt sind. Es liegt auf
dem Altar der Menschheit; jeder hat das Recht, die Weihen zu nehmen und
das Wort zu erklären, das "im Anfang war". Die Bibel aber hat es mit
Geschichte und Philosophie gemein, daß in ihr jeder, wie in einem Spiegel,
sich selber wiederfindet, und was bekommt da nicht mancher zu schauen?'So
ist es dem grübelnden Religionseifer des Umgekehrten nicht leicht gemacht, das
Rechte vom Falschen zu unterscheiden; und so ist mancher beschränkte Verstand
ehrlicher Frommen in ein Labyrinth von Mysterien und Ncligionsgeheimnissen
geführt worden, die mir in der Phantasie existirten. So endlich ist es zu erklären,
daß einzelne Aphorismen und Sätze der Bibel die Grundlage fast aller prote¬
stantischen Sätze geworden sind, wie grade die Anlage und Stimmung eines
begabten Menschen auf diesen oder jenen Passus stieß und von ihm angeregt
wurde und der Widerspruch der umgebenden Welt den ungeschickten und nicht
zur Allgemeinheit des Blicks sich erhebenden Forscher auf dem Einen, als dem
einzig Wahren und Wichtigen sirirte. -- Darum durfte auch Luther so frei,
kühn und in furchtloser Consequenz mit den Worten der Bibel walten; denn
hinter den Worten hatte er den Geist der "Inspiration" geschaut, und so
mochte er über den Faltenwurf der Gewänder getrost hinwegsehen. Die Planeten,
welche von seiner Sonne ihr Licht borgten, konnten natürlich nicht so erfolg¬
reich sein. Wie andere Geister zweiten Ranges haben sie das Kleid für das
Wesen gehalten : sie wollten den tödtlichen Einflüssen einer Orthodoxie entfliehen
und schufen eine andere.

Die Scheidewand der Sekten ist also eine zufällige. Ein enges Band
hält sie zusammen; und die Einheit des Protestantismus wird durch diese
Spaltungen nicht verletzt. Und wenn in diesen speciellen Bewegungen ein
einseitiges Leben sich äußert, so ist es eben doch Leben und Bewegung und
zwar hergeleitet von der gemeinsamen Quelle.

Die Sekten Englands sind sich dieser Solidarität ziemlich klar bewußte
wenigstens bezeugen sie dieselbe praktisch bei jeder Gelegenheit. Gegenseitige
Rivalität hindert sie nicht, eine feste, compacte Masse zu bilden: sie haben eine
Gesammt- und Parteipolitik, der sich oft die Sektenmcinung unterordnen oder
davor verstummen muß; sie haben eine gemeinsame Taktik.

Nach alledem ist es natürlich, daß sie eine ungemeine Familienähnlichkeit mit
einander zeigen. Sie alle haben eine strenge, alttestamentliche Färbung. Vielerlei
Ähnlichkeiten machen das Volk von England in gewissem Maße zu den Hebräern
desOecidents und darum ist der Einfluß, welchen dasselbe dem alten Testamente
erlaubt hat, doppelt interessant. Hierin stehen alle andern protestantischen Volker ihm
weit nach. Es ist wahr, daß der rein orientalische Geist der jüdischen Schriften dem
Fanatismus und der Schwärmerei überhaupt holder ist als das neue Testament,
in dem der meh'r nüchterne Geist des Abendlandes sich mit der religiösen Begei-


Inspirationen erweckt, als in der Kirchengeschichte registrirt sind. Es liegt auf
dem Altar der Menschheit; jeder hat das Recht, die Weihen zu nehmen und
das Wort zu erklären, das „im Anfang war". Die Bibel aber hat es mit
Geschichte und Philosophie gemein, daß in ihr jeder, wie in einem Spiegel,
sich selber wiederfindet, und was bekommt da nicht mancher zu schauen?'So
ist es dem grübelnden Religionseifer des Umgekehrten nicht leicht gemacht, das
Rechte vom Falschen zu unterscheiden; und so ist mancher beschränkte Verstand
ehrlicher Frommen in ein Labyrinth von Mysterien und Ncligionsgeheimnissen
geführt worden, die mir in der Phantasie existirten. So endlich ist es zu erklären,
daß einzelne Aphorismen und Sätze der Bibel die Grundlage fast aller prote¬
stantischen Sätze geworden sind, wie grade die Anlage und Stimmung eines
begabten Menschen auf diesen oder jenen Passus stieß und von ihm angeregt
wurde und der Widerspruch der umgebenden Welt den ungeschickten und nicht
zur Allgemeinheit des Blicks sich erhebenden Forscher auf dem Einen, als dem
einzig Wahren und Wichtigen sirirte. — Darum durfte auch Luther so frei,
kühn und in furchtloser Consequenz mit den Worten der Bibel walten; denn
hinter den Worten hatte er den Geist der „Inspiration" geschaut, und so
mochte er über den Faltenwurf der Gewänder getrost hinwegsehen. Die Planeten,
welche von seiner Sonne ihr Licht borgten, konnten natürlich nicht so erfolg¬
reich sein. Wie andere Geister zweiten Ranges haben sie das Kleid für das
Wesen gehalten : sie wollten den tödtlichen Einflüssen einer Orthodoxie entfliehen
und schufen eine andere.

Die Scheidewand der Sekten ist also eine zufällige. Ein enges Band
hält sie zusammen; und die Einheit des Protestantismus wird durch diese
Spaltungen nicht verletzt. Und wenn in diesen speciellen Bewegungen ein
einseitiges Leben sich äußert, so ist es eben doch Leben und Bewegung und
zwar hergeleitet von der gemeinsamen Quelle.

Die Sekten Englands sind sich dieser Solidarität ziemlich klar bewußte
wenigstens bezeugen sie dieselbe praktisch bei jeder Gelegenheit. Gegenseitige
Rivalität hindert sie nicht, eine feste, compacte Masse zu bilden: sie haben eine
Gesammt- und Parteipolitik, der sich oft die Sektenmcinung unterordnen oder
davor verstummen muß; sie haben eine gemeinsame Taktik.

Nach alledem ist es natürlich, daß sie eine ungemeine Familienähnlichkeit mit
einander zeigen. Sie alle haben eine strenge, alttestamentliche Färbung. Vielerlei
Ähnlichkeiten machen das Volk von England in gewissem Maße zu den Hebräern
desOecidents und darum ist der Einfluß, welchen dasselbe dem alten Testamente
erlaubt hat, doppelt interessant. Hierin stehen alle andern protestantischen Volker ihm
weit nach. Es ist wahr, daß der rein orientalische Geist der jüdischen Schriften dem
Fanatismus und der Schwärmerei überhaupt holder ist als das neue Testament,
in dem der meh'r nüchterne Geist des Abendlandes sich mit der religiösen Begei-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/182>, abgerufen am 21.12.2024.