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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Englands in allen ihren Einzelheiten, es gehört dazu ferner das geschicht¬
liche Bewußtsein, das Werden derselben nicht blos in den einzelnen bis¬
herigen Stufen zu erkennen, sondern auch für die noch fortdauernden Ent¬
wicklungen herauszufühlen und richtig im englischen Geiste und im Geiste der
gestimmten Neuzeit zu würdigen -- kein Trödelhandel mit den zerrissenen Glie¬
dern eines Diplomaten, sondern ein reiches Magazin positiven Wissens und
objectiven Urtheils. Die Aufgabe schon von dieser Seite aufgefaßt, ist un¬
verkennbar eine äußerst schwierige und eine eben wegen des eigenthümlichen
Verhaltens des Engländers zur Vergangenheit für diesen kaum erreichbare.
Nur ein Deutscher scheint einer Aufgabe gewachsen zu sein, welche solche Un¬
ermüdlichkeit, solche Wahrheitsliebe, solche Objectivität und zugleich das klare
Erkennen des Zuständlichen voraussetzt, das die Grundlage jedes historischen
Bewußtseins bildet. Die Vergangenheit aus der Gegenwart begreisen, die
Gegenwart aus der Vergangenheit verstehen lernen, wer könnte das besser,
als ein Deutscher, der Kopf und Herz für seine Zeit hat. Vielleicht daß diese
Fähigkeit sich mindert, sobald die deutschen Zustände so weit gediehen sind,
um politisches Pcirtcileben und scharfes politisches Interesse nicht blos gelegent¬
lich oder in einzelnen Kreisen entstehen zu lassen, sondern in organischer Ent¬
wicklung durch das ganze Volksbewußtsein hindurch lebendig zu machen.

Ein Deutscher hat aber auch diese schwierige Aufgabe gelöst, und zwar
in einer nach jeder Richtung hin so gediegenen Weise, daß daraus eine wirk¬
liche Mustcrarbeit geworden ist. Wir wollen hier nicht weitläufig auf das in
diesen Blättern bereits ausführlich besprochene Buch von Gneist eingehen.
Nur erwähnen wollen wir, daß die englische Presse dieser doch nun schon län¬
ger als ein Jahr alten Leistung fast gar nicht, die deutsche ihrer mit wenigen .
anerkennenswerther Ausnahmen nur noch sehr obenhin gedacht hat. Daß der
scharfe nationale Egoismus der Engländer nicht leicht geneigt ist, einem deut¬
schen Professor die selbst verdiente Palme einer gelungenen Schilderung und
Kritik englischer Verwaltungszustände zuzuerkennen, ist begreiflich genug. Zur
Entschuldigung der politischen Presse Deutschlands, welcher die Beachtung eng¬
lischer Zustände und daher auch eines so reichen heimischen Materials zu deren
Erkennung nahe genug liegt, läßt sich, so weit sie nur oberflächliche No¬
tiz von dem Buche genommen, höchstens sagen, daß sie kaum mehr als den
Titel davon kennt, wenn das eine Entschuldigung ist, oder daß sie in ihrer
aphoristischen Kritik des Englischen sich so behaglich fühlt, daß sie diese Fülle
sachlichen Stoffs entbehren zu können glaubt -- vielleicht könnte die gesunde
historische Anschauung des Buchs selbst manche Einbildungen stören.

Was diesem Buche dieses lebensfrische Colorit verleiht, das ist die klare
Erkenntniß, daß es in der objectivsten Kenntniß Englands und in einer ganz
gewiß individuellen Liebe zum Englischen -- denn wer kann ein solches Buch


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Englands in allen ihren Einzelheiten, es gehört dazu ferner das geschicht¬
liche Bewußtsein, das Werden derselben nicht blos in den einzelnen bis¬
herigen Stufen zu erkennen, sondern auch für die noch fortdauernden Ent¬
wicklungen herauszufühlen und richtig im englischen Geiste und im Geiste der
gestimmten Neuzeit zu würdigen — kein Trödelhandel mit den zerrissenen Glie¬
dern eines Diplomaten, sondern ein reiches Magazin positiven Wissens und
objectiven Urtheils. Die Aufgabe schon von dieser Seite aufgefaßt, ist un¬
verkennbar eine äußerst schwierige und eine eben wegen des eigenthümlichen
Verhaltens des Engländers zur Vergangenheit für diesen kaum erreichbare.
Nur ein Deutscher scheint einer Aufgabe gewachsen zu sein, welche solche Un¬
ermüdlichkeit, solche Wahrheitsliebe, solche Objectivität und zugleich das klare
Erkennen des Zuständlichen voraussetzt, das die Grundlage jedes historischen
Bewußtseins bildet. Die Vergangenheit aus der Gegenwart begreisen, die
Gegenwart aus der Vergangenheit verstehen lernen, wer könnte das besser,
als ein Deutscher, der Kopf und Herz für seine Zeit hat. Vielleicht daß diese
Fähigkeit sich mindert, sobald die deutschen Zustände so weit gediehen sind,
um politisches Pcirtcileben und scharfes politisches Interesse nicht blos gelegent¬
lich oder in einzelnen Kreisen entstehen zu lassen, sondern in organischer Ent¬
wicklung durch das ganze Volksbewußtsein hindurch lebendig zu machen.

Ein Deutscher hat aber auch diese schwierige Aufgabe gelöst, und zwar
in einer nach jeder Richtung hin so gediegenen Weise, daß daraus eine wirk¬
liche Mustcrarbeit geworden ist. Wir wollen hier nicht weitläufig auf das in
diesen Blättern bereits ausführlich besprochene Buch von Gneist eingehen.
Nur erwähnen wollen wir, daß die englische Presse dieser doch nun schon län¬
ger als ein Jahr alten Leistung fast gar nicht, die deutsche ihrer mit wenigen .
anerkennenswerther Ausnahmen nur noch sehr obenhin gedacht hat. Daß der
scharfe nationale Egoismus der Engländer nicht leicht geneigt ist, einem deut¬
schen Professor die selbst verdiente Palme einer gelungenen Schilderung und
Kritik englischer Verwaltungszustände zuzuerkennen, ist begreiflich genug. Zur
Entschuldigung der politischen Presse Deutschlands, welcher die Beachtung eng¬
lischer Zustände und daher auch eines so reichen heimischen Materials zu deren
Erkennung nahe genug liegt, läßt sich, so weit sie nur oberflächliche No¬
tiz von dem Buche genommen, höchstens sagen, daß sie kaum mehr als den
Titel davon kennt, wenn das eine Entschuldigung ist, oder daß sie in ihrer
aphoristischen Kritik des Englischen sich so behaglich fühlt, daß sie diese Fülle
sachlichen Stoffs entbehren zu können glaubt -- vielleicht könnte die gesunde
historische Anschauung des Buchs selbst manche Einbildungen stören.

Was diesem Buche dieses lebensfrische Colorit verleiht, das ist die klare
Erkenntniß, daß es in der objectivsten Kenntniß Englands und in einer ganz
gewiß individuellen Liebe zum Englischen — denn wer kann ein solches Buch


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[0099] Englands in allen ihren Einzelheiten, es gehört dazu ferner das geschicht¬ liche Bewußtsein, das Werden derselben nicht blos in den einzelnen bis¬ herigen Stufen zu erkennen, sondern auch für die noch fortdauernden Ent¬ wicklungen herauszufühlen und richtig im englischen Geiste und im Geiste der gestimmten Neuzeit zu würdigen — kein Trödelhandel mit den zerrissenen Glie¬ dern eines Diplomaten, sondern ein reiches Magazin positiven Wissens und objectiven Urtheils. Die Aufgabe schon von dieser Seite aufgefaßt, ist un¬ verkennbar eine äußerst schwierige und eine eben wegen des eigenthümlichen Verhaltens des Engländers zur Vergangenheit für diesen kaum erreichbare. Nur ein Deutscher scheint einer Aufgabe gewachsen zu sein, welche solche Un¬ ermüdlichkeit, solche Wahrheitsliebe, solche Objectivität und zugleich das klare Erkennen des Zuständlichen voraussetzt, das die Grundlage jedes historischen Bewußtseins bildet. Die Vergangenheit aus der Gegenwart begreisen, die Gegenwart aus der Vergangenheit verstehen lernen, wer könnte das besser, als ein Deutscher, der Kopf und Herz für seine Zeit hat. Vielleicht daß diese Fähigkeit sich mindert, sobald die deutschen Zustände so weit gediehen sind, um politisches Pcirtcileben und scharfes politisches Interesse nicht blos gelegent¬ lich oder in einzelnen Kreisen entstehen zu lassen, sondern in organischer Ent¬ wicklung durch das ganze Volksbewußtsein hindurch lebendig zu machen. Ein Deutscher hat aber auch diese schwierige Aufgabe gelöst, und zwar in einer nach jeder Richtung hin so gediegenen Weise, daß daraus eine wirk¬ liche Mustcrarbeit geworden ist. Wir wollen hier nicht weitläufig auf das in diesen Blättern bereits ausführlich besprochene Buch von Gneist eingehen. Nur erwähnen wollen wir, daß die englische Presse dieser doch nun schon län¬ ger als ein Jahr alten Leistung fast gar nicht, die deutsche ihrer mit wenigen . anerkennenswerther Ausnahmen nur noch sehr obenhin gedacht hat. Daß der scharfe nationale Egoismus der Engländer nicht leicht geneigt ist, einem deut¬ schen Professor die selbst verdiente Palme einer gelungenen Schilderung und Kritik englischer Verwaltungszustände zuzuerkennen, ist begreiflich genug. Zur Entschuldigung der politischen Presse Deutschlands, welcher die Beachtung eng¬ lischer Zustände und daher auch eines so reichen heimischen Materials zu deren Erkennung nahe genug liegt, läßt sich, so weit sie nur oberflächliche No¬ tiz von dem Buche genommen, höchstens sagen, daß sie kaum mehr als den Titel davon kennt, wenn das eine Entschuldigung ist, oder daß sie in ihrer aphoristischen Kritik des Englischen sich so behaglich fühlt, daß sie diese Fülle sachlichen Stoffs entbehren zu können glaubt -- vielleicht könnte die gesunde historische Anschauung des Buchs selbst manche Einbildungen stören. Was diesem Buche dieses lebensfrische Colorit verleiht, das ist die klare Erkenntniß, daß es in der objectivsten Kenntniß Englands und in einer ganz gewiß individuellen Liebe zum Englischen — denn wer kann ein solches Buch 12*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/99>, abgerufen am 22.07.2024.