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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Wagners Gesellschastslexikou.

Das erste Heft des Wagnerschen Staats- und Gesellschaftslexikons ist
nun wirklich erschienen, und der Herausgeber führt dasselbe mit einem längern
Vorwort und einer Einleitung ein, welche die leitenden Grundsätze des Wer¬
kes erörtert. Selten haben wir eine so wunderliche Vermischung von Wahren
und Falschen gelesen, als diese Seiten bieten; es heißt zwar, man wolle be¬
scheiden auftreten und dem Publicum von diesem ersten Versuche conservativer
Publicistik keine hochtönenden Verheißungen geben, aber es werden doch Aus¬
sichten eröffnet, die Lösung der tiefsten und schwersten Probleme der politischen
und socialen Gegenwart in dem Gesellschaftslcxikon finden zu können, und bei
der Stellung der Fragen, wie sie vorläufig und im Allgemeinen im Vorwort
gegeben wird,,kommen eine so große Zahl von gefährlichen Unklarheiten und
schiefen Auffassungen vor, daß wir nicht umhin können, einige derselben näher
zu beleuchten und zu versuchen, nicht die Fragen zu lösen, wie dies in be¬
schränktem Raum überhaupt nicht möglich ist, sondern richtiger zu stellen.

Der Herausgeber wendet sich im Vorwort besonders gegen den Libera¬
lismus, der in Religion. Wissenschaft, Gesellschaft und Staat sich lossage
vom Positiven, von den gegebenen und bestehenden Grundlagen. Dagegen läßt
sich nun an sich nichts sagen, es kommt nur darauf an, wie man das Po¬
sitive auffaßt und wie man es fortbilden will. Daß der vormärzliche Libera¬
lismus hier schwer gefehlt hat, daß er den geschichtlichen Verhältnissen nicht
genug Rechnung getragen, ist unbestreitbar und durch die Erfahrung der
Jahre 1848 und 49 bestätigt, aber man sei nicht ungerecht gegen jene Männer,
die vor jener bewegten Zeit als Stimmführer des Liberalismus galten. Sie
waren oft unpraktisch, abstrahirten von andern Staaten Grundsätze, die für
Deutschland nicht anwendbar waren, aber war dies allein ihr Fehler? Hatten
nicht auch die Schuld daran, welche den besten Köpfen eine freiere politische
Wirksamkeit in dem realen Staatsleben verschlossen, in welcher sich die un¬
praktischen Theorien von selbst berichtigt hätten? Welche Laufbahn außer der
akademischen oder publicistischen konnte ein Mann von lebendigem politischem In¬
teresse ergreisen, der nicht die langsamen Windungen der Bureaukratie durchmachen
wollte? Wir sehen in England oft junge Mitglieder des Parlamentes mit
den hochfliegendsten und kühnsten Projecten hervortreten, aber die stetige
praktische Beschäftigung mit der politischen Wirklichkeit streift das Chimärische
rasch ab, Md sie werden nützliche und thätige Mitarbeiter am Gemeinwohl,
während Leute, die sich vom lebendigen Treiben und schaffendes Tages zurück¬
ziehen, in England ebensowol unpraktische Theorien zu Wege bringen als


Wagners Gesellschastslexikou.

Das erste Heft des Wagnerschen Staats- und Gesellschaftslexikons ist
nun wirklich erschienen, und der Herausgeber führt dasselbe mit einem längern
Vorwort und einer Einleitung ein, welche die leitenden Grundsätze des Wer¬
kes erörtert. Selten haben wir eine so wunderliche Vermischung von Wahren
und Falschen gelesen, als diese Seiten bieten; es heißt zwar, man wolle be¬
scheiden auftreten und dem Publicum von diesem ersten Versuche conservativer
Publicistik keine hochtönenden Verheißungen geben, aber es werden doch Aus¬
sichten eröffnet, die Lösung der tiefsten und schwersten Probleme der politischen
und socialen Gegenwart in dem Gesellschaftslcxikon finden zu können, und bei
der Stellung der Fragen, wie sie vorläufig und im Allgemeinen im Vorwort
gegeben wird,,kommen eine so große Zahl von gefährlichen Unklarheiten und
schiefen Auffassungen vor, daß wir nicht umhin können, einige derselben näher
zu beleuchten und zu versuchen, nicht die Fragen zu lösen, wie dies in be¬
schränktem Raum überhaupt nicht möglich ist, sondern richtiger zu stellen.

Der Herausgeber wendet sich im Vorwort besonders gegen den Libera¬
lismus, der in Religion. Wissenschaft, Gesellschaft und Staat sich lossage
vom Positiven, von den gegebenen und bestehenden Grundlagen. Dagegen läßt
sich nun an sich nichts sagen, es kommt nur darauf an, wie man das Po¬
sitive auffaßt und wie man es fortbilden will. Daß der vormärzliche Libera¬
lismus hier schwer gefehlt hat, daß er den geschichtlichen Verhältnissen nicht
genug Rechnung getragen, ist unbestreitbar und durch die Erfahrung der
Jahre 1848 und 49 bestätigt, aber man sei nicht ungerecht gegen jene Männer,
die vor jener bewegten Zeit als Stimmführer des Liberalismus galten. Sie
waren oft unpraktisch, abstrahirten von andern Staaten Grundsätze, die für
Deutschland nicht anwendbar waren, aber war dies allein ihr Fehler? Hatten
nicht auch die Schuld daran, welche den besten Köpfen eine freiere politische
Wirksamkeit in dem realen Staatsleben verschlossen, in welcher sich die un¬
praktischen Theorien von selbst berichtigt hätten? Welche Laufbahn außer der
akademischen oder publicistischen konnte ein Mann von lebendigem politischem In¬
teresse ergreisen, der nicht die langsamen Windungen der Bureaukratie durchmachen
wollte? Wir sehen in England oft junge Mitglieder des Parlamentes mit
den hochfliegendsten und kühnsten Projecten hervortreten, aber die stetige
praktische Beschäftigung mit der politischen Wirklichkeit streift das Chimärische
rasch ab, Md sie werden nützliche und thätige Mitarbeiter am Gemeinwohl,
während Leute, die sich vom lebendigen Treiben und schaffendes Tages zurück¬
ziehen, in England ebensowol unpraktische Theorien zu Wege bringen als


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[0076] Wagners Gesellschastslexikou. Das erste Heft des Wagnerschen Staats- und Gesellschaftslexikons ist nun wirklich erschienen, und der Herausgeber führt dasselbe mit einem längern Vorwort und einer Einleitung ein, welche die leitenden Grundsätze des Wer¬ kes erörtert. Selten haben wir eine so wunderliche Vermischung von Wahren und Falschen gelesen, als diese Seiten bieten; es heißt zwar, man wolle be¬ scheiden auftreten und dem Publicum von diesem ersten Versuche conservativer Publicistik keine hochtönenden Verheißungen geben, aber es werden doch Aus¬ sichten eröffnet, die Lösung der tiefsten und schwersten Probleme der politischen und socialen Gegenwart in dem Gesellschaftslcxikon finden zu können, und bei der Stellung der Fragen, wie sie vorläufig und im Allgemeinen im Vorwort gegeben wird,,kommen eine so große Zahl von gefährlichen Unklarheiten und schiefen Auffassungen vor, daß wir nicht umhin können, einige derselben näher zu beleuchten und zu versuchen, nicht die Fragen zu lösen, wie dies in be¬ schränktem Raum überhaupt nicht möglich ist, sondern richtiger zu stellen. Der Herausgeber wendet sich im Vorwort besonders gegen den Libera¬ lismus, der in Religion. Wissenschaft, Gesellschaft und Staat sich lossage vom Positiven, von den gegebenen und bestehenden Grundlagen. Dagegen läßt sich nun an sich nichts sagen, es kommt nur darauf an, wie man das Po¬ sitive auffaßt und wie man es fortbilden will. Daß der vormärzliche Libera¬ lismus hier schwer gefehlt hat, daß er den geschichtlichen Verhältnissen nicht genug Rechnung getragen, ist unbestreitbar und durch die Erfahrung der Jahre 1848 und 49 bestätigt, aber man sei nicht ungerecht gegen jene Männer, die vor jener bewegten Zeit als Stimmführer des Liberalismus galten. Sie waren oft unpraktisch, abstrahirten von andern Staaten Grundsätze, die für Deutschland nicht anwendbar waren, aber war dies allein ihr Fehler? Hatten nicht auch die Schuld daran, welche den besten Köpfen eine freiere politische Wirksamkeit in dem realen Staatsleben verschlossen, in welcher sich die un¬ praktischen Theorien von selbst berichtigt hätten? Welche Laufbahn außer der akademischen oder publicistischen konnte ein Mann von lebendigem politischem In¬ teresse ergreisen, der nicht die langsamen Windungen der Bureaukratie durchmachen wollte? Wir sehen in England oft junge Mitglieder des Parlamentes mit den hochfliegendsten und kühnsten Projecten hervortreten, aber die stetige praktische Beschäftigung mit der politischen Wirklichkeit streift das Chimärische rasch ab, Md sie werden nützliche und thätige Mitarbeiter am Gemeinwohl, während Leute, die sich vom lebendigen Treiben und schaffendes Tages zurück¬ ziehen, in England ebensowol unpraktische Theorien zu Wege bringen als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/76>, abgerufen am 03.07.2024.