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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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gelb des beginnenden Morgenroths über meerblauem Felsenhorizont auf
der andern Seite einen Zauber aus das Auge übte, vor dem die Gedanken
vergingen.

Die Sonne war eben über den Bergen erschienen, als wir links von der
Chaussee, die hier durch grüne Gurten und Felder führt, einen niedrigen Hü¬
gel mit Mauerwerk aus mächtigen Quadern bemerkten. Der Wagen hielt
still. Wir waren vor den Ruinen von Tiryns. Die felsige Höhe, auf der sie
liegen, ist nicht hoher als etwa vierzig Fuß. Ihre Gestalt erinnert an eine
Sandale, ihre Länge beträgt oben gegen dreihundert, ihre größte Breite un¬
gefähr neunzig Schritte. Die Neste der Burg, deren Erbauung lydischen Cy¬
klopen zugeschrieben wurde, befinden sich jedenfalls noch in demselben Zustande,
wie im Jahre 466 v. Chr.. wo sie von den Argivcrn zerstört wurde. Es
sind Mauern, Theile von Thoren. Gänge mit Ueberwölbung erhalten, alles
zusammengefügt aus unbehauenen Steinen und ohne Anwendung von Mörtel.
Um den Rand der Sandale lauft eine Mauer von Felsblöcken, von. denen einige
die kolossale Länge von zwölf Fuß und eine Höhe von fünf Fuß haben.
Der von dieser Mauer eingeschlossene Raum zerfällt in eine südliche und eine
nördliche Hälfte, von denen die erstere etwas größer als die letztere ist und
zugleich einige Fuß höher liegt. Dieser doppelte Burghof war bei unsrer
Anwesenheit mit Getreide besäet, während an den Seiten des Hügels ein
Wald hoher rothblühendcr Distelstauden wuchs. Jene höhere Südhälfte der
Burg scheint stärker befestigt gewesen zu sein, als die tiefer gelegene nördliche.
Thürme hatte Tiryns wahrscheinlich so wenig wie Mykenä, dagegen wie dieses
Mauervorsprünge zur Vertheidigung der Flanken. Ein solcher erhebt sich na¬
mentlich neben dem Aufgang nach dem großen Hauptthore im Süden, und zwar so,
daß die stürmenden ihm die rechte unbeschildete Seite zukehren mußten. Eigen¬
thümlich ist die Bauart der Gänge, welche zu beiden Seiten des Thores in
der Mauer des obern Theiles der Burg angebracht sind, und von denen der
größere bei einer Breite von ungefähr sechs und einer Höhe von ziemlich
zwölf Fuß fast neunzig Fuß lang ist. Die Decke dieser Gänge endigt mit
einer Art Gewölbe von der Form unsres Spitzbogens, eine Gestalt, die nicht
durch Abschrägung der Steine, sondern ähnlich wie beim Grabmal des Aga-
memnon in Mykenä dadurch hervorgebracht ist, daß die Steine von da an,
wo der Bogen beginnt, so auseinandergelegt sind, daß jeder ein wenig über
den nächsten untern hervortritt und die beiden Seiten der Wand in den ober¬
sten Schichten zusammentreffen. Da die Blöcke unbearbeitet sind und die
Wände aus nur fünf oder sechs Lagen bestehen, so kann von einem Spitzbogen
natürlich nur ganz entfernt die Rede sein. Das Ganze sieht überhaupt plump
und ungeschlacht, etwa wie ein von Nicscnkindern zusammengelegtes Spiel¬
werk, aus und interessirt nur durch sein hohes Alterthum und durch den Cor-


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gelb des beginnenden Morgenroths über meerblauem Felsenhorizont auf
der andern Seite einen Zauber aus das Auge übte, vor dem die Gedanken
vergingen.

Die Sonne war eben über den Bergen erschienen, als wir links von der
Chaussee, die hier durch grüne Gurten und Felder führt, einen niedrigen Hü¬
gel mit Mauerwerk aus mächtigen Quadern bemerkten. Der Wagen hielt
still. Wir waren vor den Ruinen von Tiryns. Die felsige Höhe, auf der sie
liegen, ist nicht hoher als etwa vierzig Fuß. Ihre Gestalt erinnert an eine
Sandale, ihre Länge beträgt oben gegen dreihundert, ihre größte Breite un¬
gefähr neunzig Schritte. Die Neste der Burg, deren Erbauung lydischen Cy¬
klopen zugeschrieben wurde, befinden sich jedenfalls noch in demselben Zustande,
wie im Jahre 466 v. Chr.. wo sie von den Argivcrn zerstört wurde. Es
sind Mauern, Theile von Thoren. Gänge mit Ueberwölbung erhalten, alles
zusammengefügt aus unbehauenen Steinen und ohne Anwendung von Mörtel.
Um den Rand der Sandale lauft eine Mauer von Felsblöcken, von. denen einige
die kolossale Länge von zwölf Fuß und eine Höhe von fünf Fuß haben.
Der von dieser Mauer eingeschlossene Raum zerfällt in eine südliche und eine
nördliche Hälfte, von denen die erstere etwas größer als die letztere ist und
zugleich einige Fuß höher liegt. Dieser doppelte Burghof war bei unsrer
Anwesenheit mit Getreide besäet, während an den Seiten des Hügels ein
Wald hoher rothblühendcr Distelstauden wuchs. Jene höhere Südhälfte der
Burg scheint stärker befestigt gewesen zu sein, als die tiefer gelegene nördliche.
Thürme hatte Tiryns wahrscheinlich so wenig wie Mykenä, dagegen wie dieses
Mauervorsprünge zur Vertheidigung der Flanken. Ein solcher erhebt sich na¬
mentlich neben dem Aufgang nach dem großen Hauptthore im Süden, und zwar so,
daß die stürmenden ihm die rechte unbeschildete Seite zukehren mußten. Eigen¬
thümlich ist die Bauart der Gänge, welche zu beiden Seiten des Thores in
der Mauer des obern Theiles der Burg angebracht sind, und von denen der
größere bei einer Breite von ungefähr sechs und einer Höhe von ziemlich
zwölf Fuß fast neunzig Fuß lang ist. Die Decke dieser Gänge endigt mit
einer Art Gewölbe von der Form unsres Spitzbogens, eine Gestalt, die nicht
durch Abschrägung der Steine, sondern ähnlich wie beim Grabmal des Aga-
memnon in Mykenä dadurch hervorgebracht ist, daß die Steine von da an,
wo der Bogen beginnt, so auseinandergelegt sind, daß jeder ein wenig über
den nächsten untern hervortritt und die beiden Seiten der Wand in den ober¬
sten Schichten zusammentreffen. Da die Blöcke unbearbeitet sind und die
Wände aus nur fünf oder sechs Lagen bestehen, so kann von einem Spitzbogen
natürlich nur ganz entfernt die Rede sein. Das Ganze sieht überhaupt plump
und ungeschlacht, etwa wie ein von Nicscnkindern zusammengelegtes Spiel¬
werk, aus und interessirt nur durch sein hohes Alterthum und durch den Cor-


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[0483] gelb des beginnenden Morgenroths über meerblauem Felsenhorizont auf der andern Seite einen Zauber aus das Auge übte, vor dem die Gedanken vergingen. Die Sonne war eben über den Bergen erschienen, als wir links von der Chaussee, die hier durch grüne Gurten und Felder führt, einen niedrigen Hü¬ gel mit Mauerwerk aus mächtigen Quadern bemerkten. Der Wagen hielt still. Wir waren vor den Ruinen von Tiryns. Die felsige Höhe, auf der sie liegen, ist nicht hoher als etwa vierzig Fuß. Ihre Gestalt erinnert an eine Sandale, ihre Länge beträgt oben gegen dreihundert, ihre größte Breite un¬ gefähr neunzig Schritte. Die Neste der Burg, deren Erbauung lydischen Cy¬ klopen zugeschrieben wurde, befinden sich jedenfalls noch in demselben Zustande, wie im Jahre 466 v. Chr.. wo sie von den Argivcrn zerstört wurde. Es sind Mauern, Theile von Thoren. Gänge mit Ueberwölbung erhalten, alles zusammengefügt aus unbehauenen Steinen und ohne Anwendung von Mörtel. Um den Rand der Sandale lauft eine Mauer von Felsblöcken, von. denen einige die kolossale Länge von zwölf Fuß und eine Höhe von fünf Fuß haben. Der von dieser Mauer eingeschlossene Raum zerfällt in eine südliche und eine nördliche Hälfte, von denen die erstere etwas größer als die letztere ist und zugleich einige Fuß höher liegt. Dieser doppelte Burghof war bei unsrer Anwesenheit mit Getreide besäet, während an den Seiten des Hügels ein Wald hoher rothblühendcr Distelstauden wuchs. Jene höhere Südhälfte der Burg scheint stärker befestigt gewesen zu sein, als die tiefer gelegene nördliche. Thürme hatte Tiryns wahrscheinlich so wenig wie Mykenä, dagegen wie dieses Mauervorsprünge zur Vertheidigung der Flanken. Ein solcher erhebt sich na¬ mentlich neben dem Aufgang nach dem großen Hauptthore im Süden, und zwar so, daß die stürmenden ihm die rechte unbeschildete Seite zukehren mußten. Eigen¬ thümlich ist die Bauart der Gänge, welche zu beiden Seiten des Thores in der Mauer des obern Theiles der Burg angebracht sind, und von denen der größere bei einer Breite von ungefähr sechs und einer Höhe von ziemlich zwölf Fuß fast neunzig Fuß lang ist. Die Decke dieser Gänge endigt mit einer Art Gewölbe von der Form unsres Spitzbogens, eine Gestalt, die nicht durch Abschrägung der Steine, sondern ähnlich wie beim Grabmal des Aga- memnon in Mykenä dadurch hervorgebracht ist, daß die Steine von da an, wo der Bogen beginnt, so auseinandergelegt sind, daß jeder ein wenig über den nächsten untern hervortritt und die beiden Seiten der Wand in den ober¬ sten Schichten zusammentreffen. Da die Blöcke unbearbeitet sind und die Wände aus nur fünf oder sechs Lagen bestehen, so kann von einem Spitzbogen natürlich nur ganz entfernt die Rede sein. Das Ganze sieht überhaupt plump und ungeschlacht, etwa wie ein von Nicscnkindern zusammengelegtes Spiel¬ werk, aus und interessirt nur durch sein hohes Alterthum und durch den Cor- 60*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/483>, abgerufen am 23.07.2024.