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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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und winken und eiskalte Tropfen von sich abschütteln. Das Geschrei der
Eulen, das Krächzen der Naben, die aus ihrer Nuhe gestört, scharenweis
um den Thurm flattern, klingt noch schauerlicher als sonst. Und dann ruckt
es in der Uhr, dann rauscht es unter dem Dache der Vorhalle oder huscht
wie ein Schatten längs der Friedhofsmauer hin, und die Kerzen auf den
Gräbern flackern wie Irrlichter, um im nächsten Augenblicke zu verlöschen.

"Nach Haus! nach Haus!" bitten die Kleinen; der Aufbruch wird all¬
gemein und bald liegen die Gräber wieder in gewohnter Einsamkeit da.

Sobald die Hausfrauen heimgekehrt find, wird das Abendessen bereitet
und zwar reichlicher als sonst, obwol heute niemand rechten Hunger verspürt.
Nach dem Essen wird noch ein gemeinschaftliches Gebet gesprochen, dann
gehen die Männer und Kinder zu Bett, während sich die Hausfrau beeilt, die
letzten Pflichten des Tages zu erfüllen.

Ueber den Tisch breitet sie ein frischgewaschenes Leinentuch mit blauen
oder rothen Kanten aus; trägt die Ueberreste der Mahlzeit auf; füllt das
Salzfaß und den Ciderkrug; wirft noch einen tüchtigen Klotz ins Feuer,
rückt ein paar Schemel davor und geht, wenn alles zum Empfang der
Seelen bereit ist, gleichfalls zur Ruhe. Aber schlafen wird sie nicht; mit
gehaltenen Händen und klopfendem Herzen liegt sie in ihrem großen Bettschranke,
dessen Thüren oder Vorhänge zugezogen sind. Sie kann ihre Lieben freilich
nicht sehen, denn erst der jüngste Tag wird ihnen den Leib, zurückgeben,
der jetzt im Schoße der Erde modert. Aber sie weiß, daß sie da sind und
fühlt ihre Nähe. Jetzt glaubt sie zu hören, wie sich der Holzricgel der Thüre
hebt; dann vernimmt sie ein leises Rücken der Holzschemel, ein leises, leises
Flüstern am Kamin . . . Gewiß ist die Großmutter gekommen und hat
ihren Lieblingsplatz am Feuer aufgesucht. Ihr gegenüber sitzt wol der Bru¬
der, der vor vielen Jahren zur See ging, um nicht wieder heimzukehren;
zwischen beiden steht ein kleiner blonder Junge und streckt die Hände dem
Feuer entgegen, wie er es im Leben zu thun pflegte -- und die arme
Mutter drückt die Hände auf den Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken,
denn sie möchte um alles die Ruhestunde nicht stören, die ihren Lieben in
der alten Heimath vergönnt ist.

Während sie so lauschend daliegt, erhebt sich in der Ferne ein klagender
Gesang. Es sind die Armen des Kirchspiels, die von Thür zu Thür gehend
den "Gesang der Seelen" anstimmen. Die Sänger nähern sich, immer deut¬
licher tönt die monotone Weise durch das Rauschen des Windes, und bald
kann man die Worte verstehen. Sie singen das alte Lied:


Kommt der Tod und klopft an euer Haus,
Zittert euer Herz in Angst und Graus.

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und winken und eiskalte Tropfen von sich abschütteln. Das Geschrei der
Eulen, das Krächzen der Naben, die aus ihrer Nuhe gestört, scharenweis
um den Thurm flattern, klingt noch schauerlicher als sonst. Und dann ruckt
es in der Uhr, dann rauscht es unter dem Dache der Vorhalle oder huscht
wie ein Schatten längs der Friedhofsmauer hin, und die Kerzen auf den
Gräbern flackern wie Irrlichter, um im nächsten Augenblicke zu verlöschen.

„Nach Haus! nach Haus!" bitten die Kleinen; der Aufbruch wird all¬
gemein und bald liegen die Gräber wieder in gewohnter Einsamkeit da.

Sobald die Hausfrauen heimgekehrt find, wird das Abendessen bereitet
und zwar reichlicher als sonst, obwol heute niemand rechten Hunger verspürt.
Nach dem Essen wird noch ein gemeinschaftliches Gebet gesprochen, dann
gehen die Männer und Kinder zu Bett, während sich die Hausfrau beeilt, die
letzten Pflichten des Tages zu erfüllen.

Ueber den Tisch breitet sie ein frischgewaschenes Leinentuch mit blauen
oder rothen Kanten aus; trägt die Ueberreste der Mahlzeit auf; füllt das
Salzfaß und den Ciderkrug; wirft noch einen tüchtigen Klotz ins Feuer,
rückt ein paar Schemel davor und geht, wenn alles zum Empfang der
Seelen bereit ist, gleichfalls zur Ruhe. Aber schlafen wird sie nicht; mit
gehaltenen Händen und klopfendem Herzen liegt sie in ihrem großen Bettschranke,
dessen Thüren oder Vorhänge zugezogen sind. Sie kann ihre Lieben freilich
nicht sehen, denn erst der jüngste Tag wird ihnen den Leib, zurückgeben,
der jetzt im Schoße der Erde modert. Aber sie weiß, daß sie da sind und
fühlt ihre Nähe. Jetzt glaubt sie zu hören, wie sich der Holzricgel der Thüre
hebt; dann vernimmt sie ein leises Rücken der Holzschemel, ein leises, leises
Flüstern am Kamin . . . Gewiß ist die Großmutter gekommen und hat
ihren Lieblingsplatz am Feuer aufgesucht. Ihr gegenüber sitzt wol der Bru¬
der, der vor vielen Jahren zur See ging, um nicht wieder heimzukehren;
zwischen beiden steht ein kleiner blonder Junge und streckt die Hände dem
Feuer entgegen, wie er es im Leben zu thun pflegte — und die arme
Mutter drückt die Hände auf den Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken,
denn sie möchte um alles die Ruhestunde nicht stören, die ihren Lieben in
der alten Heimath vergönnt ist.

Während sie so lauschend daliegt, erhebt sich in der Ferne ein klagender
Gesang. Es sind die Armen des Kirchspiels, die von Thür zu Thür gehend
den „Gesang der Seelen" anstimmen. Die Sänger nähern sich, immer deut¬
licher tönt die monotone Weise durch das Rauschen des Windes, und bald
kann man die Worte verstehen. Sie singen das alte Lied:


Kommt der Tod und klopft an euer Haus,
Zittert euer Herz in Angst und Graus.

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[0473] und winken und eiskalte Tropfen von sich abschütteln. Das Geschrei der Eulen, das Krächzen der Naben, die aus ihrer Nuhe gestört, scharenweis um den Thurm flattern, klingt noch schauerlicher als sonst. Und dann ruckt es in der Uhr, dann rauscht es unter dem Dache der Vorhalle oder huscht wie ein Schatten längs der Friedhofsmauer hin, und die Kerzen auf den Gräbern flackern wie Irrlichter, um im nächsten Augenblicke zu verlöschen. „Nach Haus! nach Haus!" bitten die Kleinen; der Aufbruch wird all¬ gemein und bald liegen die Gräber wieder in gewohnter Einsamkeit da. Sobald die Hausfrauen heimgekehrt find, wird das Abendessen bereitet und zwar reichlicher als sonst, obwol heute niemand rechten Hunger verspürt. Nach dem Essen wird noch ein gemeinschaftliches Gebet gesprochen, dann gehen die Männer und Kinder zu Bett, während sich die Hausfrau beeilt, die letzten Pflichten des Tages zu erfüllen. Ueber den Tisch breitet sie ein frischgewaschenes Leinentuch mit blauen oder rothen Kanten aus; trägt die Ueberreste der Mahlzeit auf; füllt das Salzfaß und den Ciderkrug; wirft noch einen tüchtigen Klotz ins Feuer, rückt ein paar Schemel davor und geht, wenn alles zum Empfang der Seelen bereit ist, gleichfalls zur Ruhe. Aber schlafen wird sie nicht; mit gehaltenen Händen und klopfendem Herzen liegt sie in ihrem großen Bettschranke, dessen Thüren oder Vorhänge zugezogen sind. Sie kann ihre Lieben freilich nicht sehen, denn erst der jüngste Tag wird ihnen den Leib, zurückgeben, der jetzt im Schoße der Erde modert. Aber sie weiß, daß sie da sind und fühlt ihre Nähe. Jetzt glaubt sie zu hören, wie sich der Holzricgel der Thüre hebt; dann vernimmt sie ein leises Rücken der Holzschemel, ein leises, leises Flüstern am Kamin . . . Gewiß ist die Großmutter gekommen und hat ihren Lieblingsplatz am Feuer aufgesucht. Ihr gegenüber sitzt wol der Bru¬ der, der vor vielen Jahren zur See ging, um nicht wieder heimzukehren; zwischen beiden steht ein kleiner blonder Junge und streckt die Hände dem Feuer entgegen, wie er es im Leben zu thun pflegte — und die arme Mutter drückt die Hände auf den Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken, denn sie möchte um alles die Ruhestunde nicht stören, die ihren Lieben in der alten Heimath vergönnt ist. Während sie so lauschend daliegt, erhebt sich in der Ferne ein klagender Gesang. Es sind die Armen des Kirchspiels, die von Thür zu Thür gehend den „Gesang der Seelen" anstimmen. Die Sänger nähern sich, immer deut¬ licher tönt die monotone Weise durch das Rauschen des Windes, und bald kann man die Worte verstehen. Sie singen das alte Lied: Kommt der Tod und klopft an euer Haus, Zittert euer Herz in Angst und Graus. Grenzboten III. 18LL. !>9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/473>, abgerufen am 23.07.2024.