Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

so dicht als möglich zusammendrängen. "Das Jahr liegt im Sterben" sagt
der Bretagner, und wer es irgend vermag, sucht vor Sonnenuntergang ein
schützendes Obdach zu erreichen, denn jeder ist überzeugt, daß in den dunkeln
Nächten des Spätherbstes Feen, Kobolde und böse Geister noch mehr als
sonst ihr Wesen treiben.

In dieser Zeit, die so recht zum Versinken in trübe Erinnerungen ge¬
macht ist, fällt Allerseelen, das Erinnerungsfest der Todten.

Allerheiligen ist vorhergegangen; die Kirche hat im Schmuck von Kerzen
und Guirlanden geprangt; alle Reliquien und Kostbarkeiten sind zur Be¬
wunderung der Gläubigen ausgestellt gewesen; der Priester hat in seinen
rothweißen Festgewändern Messe und Vesper gelesen, aber sobald diese
vorüber ist, gewinnt das Gotteshaus eine andere Gestalt. Altar und Kanzel
werden mit schwarzen Decken bekleidet; Blumen, Fahnen, Reliquienschreine
werden entfernt. Das' Todtenglöckchen beginnt zu läuten, und die Dorf¬
bewohner strömen dem Kirchhofe zu.

Bald sieht man an jedem Grabe Gruppen von Kindern, verhüllten
Frauengestalten und Männern mit entblößtem Haupte knien. Wachskerzchen
werden angezündet und zu Häupten der Leichensteine, oder aus den Kreuzen
befestigt, die noch mit den Kränzen und Bändern des letzten Todtenfestes ge¬
schmückt sind. Neue Blumcnspenden, Herzen und Kreuze von Moos und
Seide gewunden, Heiligenbilder, Amulete und Reliquien werden auf den
Gräbern niedergelegt, darauf werden sie von den Leidtragenden mit Weih¬
wasser besprengt -- ältere Frauen gießen auch wol, der Sitte der Voreltern
getreu, eine Schale Milch darüber aus -- und dann wird gebetet, für die
Ruhe derer, die hier gebettet sind, wie für die vieler andern, die in
fernen Ländern oder auf offner See ihr Grab gesunden haben, das niemand
bekränzt. Zuweilen unterbricht ein Seufzer, ein halbunterdrücktes Schluchzen
das sanfte Gemurmel der Betenden und der Wind, der die langgezogenen
Klagetöne durch die Ulmen am. Kirchhofsthore rauscht und die letzten dürren
Blätter von den Zweigen streift, scheint Antwort darauf zu geben. Stimmen,
die längst verstummt sind, scheinen in seinem Rauschen wieder zu erwachen;
sie erzählen von allen guten und bösen Stunden der Vergangenheit; von
treuer Liebe, von Mißverständnissen oder Zwietracht, erwecken hier Sehnsucht,
dort Reue, und erinnern auch den Leichtsinnigsten, Lebensfrischesten an das
Ende seiner Tage.

Aber die Nacht wird kalt und feucht, und die Kerzen auf den Gräbern
verlöschen eine nach der andern. Furchtsam klammern sich die Kinder an
die Kapuze der Mutter oder an die Rockschöße des Vaters; es ist so unheim¬
lich im Mondenschein zwischen den Gräbern, wo die weißen Leichensteine
flimmern, die Kronen von Rauschgold leise klingen, die hohen Gräser nicken


so dicht als möglich zusammendrängen. „Das Jahr liegt im Sterben" sagt
der Bretagner, und wer es irgend vermag, sucht vor Sonnenuntergang ein
schützendes Obdach zu erreichen, denn jeder ist überzeugt, daß in den dunkeln
Nächten des Spätherbstes Feen, Kobolde und böse Geister noch mehr als
sonst ihr Wesen treiben.

In dieser Zeit, die so recht zum Versinken in trübe Erinnerungen ge¬
macht ist, fällt Allerseelen, das Erinnerungsfest der Todten.

Allerheiligen ist vorhergegangen; die Kirche hat im Schmuck von Kerzen
und Guirlanden geprangt; alle Reliquien und Kostbarkeiten sind zur Be¬
wunderung der Gläubigen ausgestellt gewesen; der Priester hat in seinen
rothweißen Festgewändern Messe und Vesper gelesen, aber sobald diese
vorüber ist, gewinnt das Gotteshaus eine andere Gestalt. Altar und Kanzel
werden mit schwarzen Decken bekleidet; Blumen, Fahnen, Reliquienschreine
werden entfernt. Das' Todtenglöckchen beginnt zu läuten, und die Dorf¬
bewohner strömen dem Kirchhofe zu.

Bald sieht man an jedem Grabe Gruppen von Kindern, verhüllten
Frauengestalten und Männern mit entblößtem Haupte knien. Wachskerzchen
werden angezündet und zu Häupten der Leichensteine, oder aus den Kreuzen
befestigt, die noch mit den Kränzen und Bändern des letzten Todtenfestes ge¬
schmückt sind. Neue Blumcnspenden, Herzen und Kreuze von Moos und
Seide gewunden, Heiligenbilder, Amulete und Reliquien werden auf den
Gräbern niedergelegt, darauf werden sie von den Leidtragenden mit Weih¬
wasser besprengt — ältere Frauen gießen auch wol, der Sitte der Voreltern
getreu, eine Schale Milch darüber aus — und dann wird gebetet, für die
Ruhe derer, die hier gebettet sind, wie für die vieler andern, die in
fernen Ländern oder auf offner See ihr Grab gesunden haben, das niemand
bekränzt. Zuweilen unterbricht ein Seufzer, ein halbunterdrücktes Schluchzen
das sanfte Gemurmel der Betenden und der Wind, der die langgezogenen
Klagetöne durch die Ulmen am. Kirchhofsthore rauscht und die letzten dürren
Blätter von den Zweigen streift, scheint Antwort darauf zu geben. Stimmen,
die längst verstummt sind, scheinen in seinem Rauschen wieder zu erwachen;
sie erzählen von allen guten und bösen Stunden der Vergangenheit; von
treuer Liebe, von Mißverständnissen oder Zwietracht, erwecken hier Sehnsucht,
dort Reue, und erinnern auch den Leichtsinnigsten, Lebensfrischesten an das
Ende seiner Tage.

Aber die Nacht wird kalt und feucht, und die Kerzen auf den Gräbern
verlöschen eine nach der andern. Furchtsam klammern sich die Kinder an
die Kapuze der Mutter oder an die Rockschöße des Vaters; es ist so unheim¬
lich im Mondenschein zwischen den Gräbern, wo die weißen Leichensteine
flimmern, die Kronen von Rauschgold leise klingen, die hohen Gräser nicken


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0472" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/106283"/>
          <p xml:id="ID_1365" prev="#ID_1364"> so dicht als möglich zusammendrängen. &#x201E;Das Jahr liegt im Sterben" sagt<lb/>
der Bretagner, und wer es irgend vermag, sucht vor Sonnenuntergang ein<lb/>
schützendes Obdach zu erreichen, denn jeder ist überzeugt, daß in den dunkeln<lb/>
Nächten des Spätherbstes Feen, Kobolde und böse Geister noch mehr als<lb/>
sonst ihr Wesen treiben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1366"> In dieser Zeit, die so recht zum Versinken in trübe Erinnerungen ge¬<lb/>
macht ist, fällt Allerseelen, das Erinnerungsfest der Todten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1367"> Allerheiligen ist vorhergegangen; die Kirche hat im Schmuck von Kerzen<lb/>
und Guirlanden geprangt; alle Reliquien und Kostbarkeiten sind zur Be¬<lb/>
wunderung der Gläubigen ausgestellt gewesen; der Priester hat in seinen<lb/>
rothweißen Festgewändern Messe und Vesper gelesen, aber sobald diese<lb/>
vorüber ist, gewinnt das Gotteshaus eine andere Gestalt. Altar und Kanzel<lb/>
werden mit schwarzen Decken bekleidet; Blumen, Fahnen, Reliquienschreine<lb/>
werden entfernt. Das' Todtenglöckchen beginnt zu läuten, und die Dorf¬<lb/>
bewohner strömen dem Kirchhofe zu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1368"> Bald sieht man an jedem Grabe Gruppen von Kindern, verhüllten<lb/>
Frauengestalten und Männern mit entblößtem Haupte knien. Wachskerzchen<lb/>
werden angezündet und zu Häupten der Leichensteine, oder aus den Kreuzen<lb/>
befestigt, die noch mit den Kränzen und Bändern des letzten Todtenfestes ge¬<lb/>
schmückt sind. Neue Blumcnspenden, Herzen und Kreuze von Moos und<lb/>
Seide gewunden, Heiligenbilder, Amulete und Reliquien werden auf den<lb/>
Gräbern niedergelegt, darauf werden sie von den Leidtragenden mit Weih¬<lb/>
wasser besprengt &#x2014; ältere Frauen gießen auch wol, der Sitte der Voreltern<lb/>
getreu, eine Schale Milch darüber aus &#x2014; und dann wird gebetet, für die<lb/>
Ruhe derer, die hier gebettet sind, wie für die vieler andern, die in<lb/>
fernen Ländern oder auf offner See ihr Grab gesunden haben, das niemand<lb/>
bekränzt. Zuweilen unterbricht ein Seufzer, ein halbunterdrücktes Schluchzen<lb/>
das sanfte Gemurmel der Betenden und der Wind, der die langgezogenen<lb/>
Klagetöne durch die Ulmen am. Kirchhofsthore rauscht und die letzten dürren<lb/>
Blätter von den Zweigen streift, scheint Antwort darauf zu geben. Stimmen,<lb/>
die längst verstummt sind, scheinen in seinem Rauschen wieder zu erwachen;<lb/>
sie erzählen von allen guten und bösen Stunden der Vergangenheit; von<lb/>
treuer Liebe, von Mißverständnissen oder Zwietracht, erwecken hier Sehnsucht,<lb/>
dort Reue, und erinnern auch den Leichtsinnigsten, Lebensfrischesten an das<lb/>
Ende seiner Tage.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1369" next="#ID_1370"> Aber die Nacht wird kalt und feucht, und die Kerzen auf den Gräbern<lb/>
verlöschen eine nach der andern. Furchtsam klammern sich die Kinder an<lb/>
die Kapuze der Mutter oder an die Rockschöße des Vaters; es ist so unheim¬<lb/>
lich im Mondenschein zwischen den Gräbern, wo die weißen Leichensteine<lb/>
flimmern, die Kronen von Rauschgold leise klingen, die hohen Gräser nicken</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0472] so dicht als möglich zusammendrängen. „Das Jahr liegt im Sterben" sagt der Bretagner, und wer es irgend vermag, sucht vor Sonnenuntergang ein schützendes Obdach zu erreichen, denn jeder ist überzeugt, daß in den dunkeln Nächten des Spätherbstes Feen, Kobolde und böse Geister noch mehr als sonst ihr Wesen treiben. In dieser Zeit, die so recht zum Versinken in trübe Erinnerungen ge¬ macht ist, fällt Allerseelen, das Erinnerungsfest der Todten. Allerheiligen ist vorhergegangen; die Kirche hat im Schmuck von Kerzen und Guirlanden geprangt; alle Reliquien und Kostbarkeiten sind zur Be¬ wunderung der Gläubigen ausgestellt gewesen; der Priester hat in seinen rothweißen Festgewändern Messe und Vesper gelesen, aber sobald diese vorüber ist, gewinnt das Gotteshaus eine andere Gestalt. Altar und Kanzel werden mit schwarzen Decken bekleidet; Blumen, Fahnen, Reliquienschreine werden entfernt. Das' Todtenglöckchen beginnt zu läuten, und die Dorf¬ bewohner strömen dem Kirchhofe zu. Bald sieht man an jedem Grabe Gruppen von Kindern, verhüllten Frauengestalten und Männern mit entblößtem Haupte knien. Wachskerzchen werden angezündet und zu Häupten der Leichensteine, oder aus den Kreuzen befestigt, die noch mit den Kränzen und Bändern des letzten Todtenfestes ge¬ schmückt sind. Neue Blumcnspenden, Herzen und Kreuze von Moos und Seide gewunden, Heiligenbilder, Amulete und Reliquien werden auf den Gräbern niedergelegt, darauf werden sie von den Leidtragenden mit Weih¬ wasser besprengt — ältere Frauen gießen auch wol, der Sitte der Voreltern getreu, eine Schale Milch darüber aus — und dann wird gebetet, für die Ruhe derer, die hier gebettet sind, wie für die vieler andern, die in fernen Ländern oder auf offner See ihr Grab gesunden haben, das niemand bekränzt. Zuweilen unterbricht ein Seufzer, ein halbunterdrücktes Schluchzen das sanfte Gemurmel der Betenden und der Wind, der die langgezogenen Klagetöne durch die Ulmen am. Kirchhofsthore rauscht und die letzten dürren Blätter von den Zweigen streift, scheint Antwort darauf zu geben. Stimmen, die längst verstummt sind, scheinen in seinem Rauschen wieder zu erwachen; sie erzählen von allen guten und bösen Stunden der Vergangenheit; von treuer Liebe, von Mißverständnissen oder Zwietracht, erwecken hier Sehnsucht, dort Reue, und erinnern auch den Leichtsinnigsten, Lebensfrischesten an das Ende seiner Tage. Aber die Nacht wird kalt und feucht, und die Kerzen auf den Gräbern verlöschen eine nach der andern. Furchtsam klammern sich die Kinder an die Kapuze der Mutter oder an die Rockschöße des Vaters; es ist so unheim¬ lich im Mondenschein zwischen den Gräbern, wo die weißen Leichensteine flimmern, die Kronen von Rauschgold leise klingen, die hohen Gräser nicken

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/472
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/472>, abgerufen am 23.07.2024.