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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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tragen diese Maler und ähnlich die Mehrzahl der modernen Meister ihren per¬
sönlichen Geschmack offen zur Schau und prägen jedem ihrer Werke in untrüg¬
licher Weise den Stempel desselben auf. Bei den Künstlern' dagegen, die ihre
subjectiven Neigungen in den Hintergrund zu drücken wissen, deren Charakte¬
ristik auf höchste sachliche Wahrheit, deren Schilderung auf vollendete Formcn-
reinheit lossteuert, besitzt das Stilgefühl schon minder sichere Anhaltspunkte;
vollends im Unsicheren tappt es bei Gemälden älterer Perioden, in welchen
die Kunstübung zünftig getrieben wurde, die Technik, die Formenwahl, die
Farbe viel des Gemeinsamen an sich trägt und auch in den Motiven mehr
die Ueberlieferung als die Individualität des Meisters zur Geltung kommt.
Innerhalb der Schule Giottos z. B. nach dem bloßen Stilgefühl die ver¬
schiedenen Individuen auseinanderzuhalten, ist bis jetzt auch dem feinsten Kunst¬
kenner nicht gelungen. Aehnliche Schwierigkeiten ergeben sich bei der kunst¬
historischen Bestimmung altdeutscher und altflandrischer Bilder, wie denn auch
hier die Meinungen der Kunstkenner am weitesten auseinandergehen. Wer
den Grund und den Umfang dieser Meinungögegensätze näher kennen lernen
will, dem empfehlen wir die Lectüre des jüngst veröffentlichten zweiten Bandes
von Hothos: "Malerschule des Hubert van Eyck". Die Aufgabe des Werkes
ist keine geringere, als in die Stellung, welche in der Kunstgeschichte bisher
Jan van Eyck eingenommen hatte, den älteren Bruder zu bringen. Wir haben
in Hubert nicht allein den Erfinder der Oelmalerei zu verehren, sondern auch
den Schöpfer der genter Altartafel, an welcher nur eine technische Nachhilfe
auf Jan van Eyck zu schreiben kommt. Hubert ist überhaupt der größere
Künstler, im Vergleich mit ihm der jüngere Bruder, auf welchen gewöhnlich
aller Ruhm gehäuft wird, der bloße kunstfertige Handwerker. Im Fleiß und
in der Treue der Schilderung, in der maßlosen Liebe für die Ausführung
auch kleiner Sächelchen kann sich kein Zeitgenosse mit Jan van Eyck messen,
als gedankenvoller, poetischer Maier steht jedoch Hubert obenan.

Das Recht zu seiner neuen Hypothese schöpft, Hotho aus dem Stilgefühle.
Die eingehende Betrachtung des tafelreichen Bildwerkes führt ihn zu dem Re¬
sultate, daß die Hauptsache jeder Tafel von Huberts Hand herrühre, und
lehrt ihn den Antheil, der beiden Brüdern nach historischen Berichten an dem
genter Altare gebührt, abwägen und scheiden. Aber dasselbe Stilgefühl hat '
Passavant, hat Waagen und Cuvalcacelle zu ganz entgegengesetzten Resultaten
geführt. Ohne Zweifel, sagt z. B. Passavant, hat Jan van Eyck die heilige
Cäcilia auf der oberen Tafel gemalt. Dagegen behauptet Hotho, daß Jans
nachbessernde Kunst hier fast gar keine Ausbeute faud. Jeder der angeführ¬
ten Kunstkenner vertheilt in anderer Weise das Werk unter die beiden Brüder,
und jeder beruft sich dabei auf sein Stilgefühl. Wer hat Recht? Schlimmer
erscheint noch eine andere Beobachtung, die man leider nur zu häufig an-


tragen diese Maler und ähnlich die Mehrzahl der modernen Meister ihren per¬
sönlichen Geschmack offen zur Schau und prägen jedem ihrer Werke in untrüg¬
licher Weise den Stempel desselben auf. Bei den Künstlern' dagegen, die ihre
subjectiven Neigungen in den Hintergrund zu drücken wissen, deren Charakte¬
ristik auf höchste sachliche Wahrheit, deren Schilderung auf vollendete Formcn-
reinheit lossteuert, besitzt das Stilgefühl schon minder sichere Anhaltspunkte;
vollends im Unsicheren tappt es bei Gemälden älterer Perioden, in welchen
die Kunstübung zünftig getrieben wurde, die Technik, die Formenwahl, die
Farbe viel des Gemeinsamen an sich trägt und auch in den Motiven mehr
die Ueberlieferung als die Individualität des Meisters zur Geltung kommt.
Innerhalb der Schule Giottos z. B. nach dem bloßen Stilgefühl die ver¬
schiedenen Individuen auseinanderzuhalten, ist bis jetzt auch dem feinsten Kunst¬
kenner nicht gelungen. Aehnliche Schwierigkeiten ergeben sich bei der kunst¬
historischen Bestimmung altdeutscher und altflandrischer Bilder, wie denn auch
hier die Meinungen der Kunstkenner am weitesten auseinandergehen. Wer
den Grund und den Umfang dieser Meinungögegensätze näher kennen lernen
will, dem empfehlen wir die Lectüre des jüngst veröffentlichten zweiten Bandes
von Hothos: „Malerschule des Hubert van Eyck". Die Aufgabe des Werkes
ist keine geringere, als in die Stellung, welche in der Kunstgeschichte bisher
Jan van Eyck eingenommen hatte, den älteren Bruder zu bringen. Wir haben
in Hubert nicht allein den Erfinder der Oelmalerei zu verehren, sondern auch
den Schöpfer der genter Altartafel, an welcher nur eine technische Nachhilfe
auf Jan van Eyck zu schreiben kommt. Hubert ist überhaupt der größere
Künstler, im Vergleich mit ihm der jüngere Bruder, auf welchen gewöhnlich
aller Ruhm gehäuft wird, der bloße kunstfertige Handwerker. Im Fleiß und
in der Treue der Schilderung, in der maßlosen Liebe für die Ausführung
auch kleiner Sächelchen kann sich kein Zeitgenosse mit Jan van Eyck messen,
als gedankenvoller, poetischer Maier steht jedoch Hubert obenan.

Das Recht zu seiner neuen Hypothese schöpft, Hotho aus dem Stilgefühle.
Die eingehende Betrachtung des tafelreichen Bildwerkes führt ihn zu dem Re¬
sultate, daß die Hauptsache jeder Tafel von Huberts Hand herrühre, und
lehrt ihn den Antheil, der beiden Brüdern nach historischen Berichten an dem
genter Altare gebührt, abwägen und scheiden. Aber dasselbe Stilgefühl hat '
Passavant, hat Waagen und Cuvalcacelle zu ganz entgegengesetzten Resultaten
geführt. Ohne Zweifel, sagt z. B. Passavant, hat Jan van Eyck die heilige
Cäcilia auf der oberen Tafel gemalt. Dagegen behauptet Hotho, daß Jans
nachbessernde Kunst hier fast gar keine Ausbeute faud. Jeder der angeführ¬
ten Kunstkenner vertheilt in anderer Weise das Werk unter die beiden Brüder,
und jeder beruft sich dabei auf sein Stilgefühl. Wer hat Recht? Schlimmer
erscheint noch eine andere Beobachtung, die man leider nur zu häufig an-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/453>, abgerufen am 23.07.2024.