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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Den eifrigsten Theilnehmer an der Ausführung seiner Ideen fand Daub
in seinem jüngern College" Marheineke (geb. 1780 zu Hildesheim, studirte
zu Göttingen, Universitütsprediger zu Erlangen 1804--1807, Prof, zu Heidel¬
berg 1807--1811, zu Berlin bis an seinen Tod 1846), her während seines
Aufenthalts in Heidelberg hauptsächlich die Kritik in den Jahrbüchern- besorgte.
Noch in Erlangen hatte er 1806 eine allgemeine Kirchengeschichte geschrieben,
die aber nur bis 604 ging und den Formalismus der Kantischen Schule mit
einer bilderreichen Rhetorik verband. Die Religion erschien ihm als das
Princip und der Geist der Weltgeschichte, und sehr entschieden wies er die
blos moralische Bedeutung des Christenthums zurück. Seine Abhandlung in
den "Studien" von 1807: "Ursprung und Entwicklung der Orthodoxie und
Heterodoxie in den ersten drei Jahrhunderten des Christenthums" enthält eine
geistvolle Verallgemeinerung der Daubschen Ideen. Die Polarität der Gegen¬
sätze liegt nicht blos, wie Daub meint, im Wesen des deutschen Volks, sondern
bereits im Wesen der christlichen Kirche. Schon der Monotheismus bedingt
die Orthodoxie; die Katholicität, unmöglich im Judenthum, geht aus dem
universellen Streben des Christenthums hervor; durch diese Geschlossenheit
wird der Gegensatz, die freie Speculation hervorgerufen, und erst durch diese
erhält die Kirche ihren Inhalt. Das rechtgläubige System ist nicht von vorn¬
herein fertig; es entsteht erst, indem die Kirche Mittel findet, auf eine gesetz¬
liche Art (Concilien, Papst) über die verschiedenen Speculationen zu urtheilen,
und das Fremdartige von sich auszuscheiden. Jede neue Ketzerei erweitert
den Inhalt des "rechten Glaubens", der ohne sie leer bliebe. Aber auch
innerhalb der rechtgläubigen Kirche geht das Räsonnement immer über die
enge Formel hinaus, und so findet der Protestantismus seine Verbündeten im
Mittelpunkt des Glaubens selbst. Die Kirche hat alles, auch ihre Lehre,
ihren Gegnern zu danken (,^es muß ja Aergerniß geben!") und diese wiederum
finden ihren Halt und ihr Vorbild in der Kirche, der sie sich entziehn. Wie
dieser Gegensatz sich Schritt sür Schritt in den drei ersten Jahrhunderten ent¬
wickelte, ist mit großem Scharfsinn gezeigt. -- Erweitert wird der Gesichts¬
punkt in den Studien von 1808"Ueber den wahren Sinn der Tradition im
katholischen Lehrbegriff". Schon Lessing hatte nachgewiesen, daß mit dem
Anfachen Gegensatz, Schrift und Ueberlieferung, die historische Begründung
der beiden Kirchen nicht zu erledigen sei, daß auch die Protestanten eine ge¬
wisse Ueberlieferung (die rsFuIg. üäei) gelten lassen: den consensus Mrum,
so weit er der Schrift nicht widerspricht. Marheineke geht mehr aufs Ein¬
zelne; er zeigt, daß die Unsicherheit, wie weit man sich an die Ueberlieferung
Zu halten habe, nicht blos auf Seite der Protestanten sei, daß die Kirche dar¬
über lange geschwankt habe, und nur, um sich den Gründen der Ketzer zu
entzieh", die freie Untersuchung der Schrift den Laien entzogen habe. Er


Grenzboten III. 1853. 52

Den eifrigsten Theilnehmer an der Ausführung seiner Ideen fand Daub
in seinem jüngern College» Marheineke (geb. 1780 zu Hildesheim, studirte
zu Göttingen, Universitütsprediger zu Erlangen 1804—1807, Prof, zu Heidel¬
berg 1807—1811, zu Berlin bis an seinen Tod 1846), her während seines
Aufenthalts in Heidelberg hauptsächlich die Kritik in den Jahrbüchern- besorgte.
Noch in Erlangen hatte er 1806 eine allgemeine Kirchengeschichte geschrieben,
die aber nur bis 604 ging und den Formalismus der Kantischen Schule mit
einer bilderreichen Rhetorik verband. Die Religion erschien ihm als das
Princip und der Geist der Weltgeschichte, und sehr entschieden wies er die
blos moralische Bedeutung des Christenthums zurück. Seine Abhandlung in
den „Studien" von 1807: „Ursprung und Entwicklung der Orthodoxie und
Heterodoxie in den ersten drei Jahrhunderten des Christenthums" enthält eine
geistvolle Verallgemeinerung der Daubschen Ideen. Die Polarität der Gegen¬
sätze liegt nicht blos, wie Daub meint, im Wesen des deutschen Volks, sondern
bereits im Wesen der christlichen Kirche. Schon der Monotheismus bedingt
die Orthodoxie; die Katholicität, unmöglich im Judenthum, geht aus dem
universellen Streben des Christenthums hervor; durch diese Geschlossenheit
wird der Gegensatz, die freie Speculation hervorgerufen, und erst durch diese
erhält die Kirche ihren Inhalt. Das rechtgläubige System ist nicht von vorn¬
herein fertig; es entsteht erst, indem die Kirche Mittel findet, auf eine gesetz¬
liche Art (Concilien, Papst) über die verschiedenen Speculationen zu urtheilen,
und das Fremdartige von sich auszuscheiden. Jede neue Ketzerei erweitert
den Inhalt des „rechten Glaubens", der ohne sie leer bliebe. Aber auch
innerhalb der rechtgläubigen Kirche geht das Räsonnement immer über die
enge Formel hinaus, und so findet der Protestantismus seine Verbündeten im
Mittelpunkt des Glaubens selbst. Die Kirche hat alles, auch ihre Lehre,
ihren Gegnern zu danken (,^es muß ja Aergerniß geben!") und diese wiederum
finden ihren Halt und ihr Vorbild in der Kirche, der sie sich entziehn. Wie
dieser Gegensatz sich Schritt sür Schritt in den drei ersten Jahrhunderten ent¬
wickelte, ist mit großem Scharfsinn gezeigt. — Erweitert wird der Gesichts¬
punkt in den Studien von 1808„Ueber den wahren Sinn der Tradition im
katholischen Lehrbegriff". Schon Lessing hatte nachgewiesen, daß mit dem
Anfachen Gegensatz, Schrift und Ueberlieferung, die historische Begründung
der beiden Kirchen nicht zu erledigen sei, daß auch die Protestanten eine ge¬
wisse Ueberlieferung (die rsFuIg. üäei) gelten lassen: den consensus Mrum,
so weit er der Schrift nicht widerspricht. Marheineke geht mehr aufs Ein¬
zelne; er zeigt, daß die Unsicherheit, wie weit man sich an die Ueberlieferung
Zu halten habe, nicht blos auf Seite der Protestanten sei, daß die Kirche dar¬
über lange geschwankt habe, und nur, um sich den Gründen der Ketzer zu
entzieh«, die freie Untersuchung der Schrift den Laien entzogen habe. Er


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[0417] Den eifrigsten Theilnehmer an der Ausführung seiner Ideen fand Daub in seinem jüngern College» Marheineke (geb. 1780 zu Hildesheim, studirte zu Göttingen, Universitütsprediger zu Erlangen 1804—1807, Prof, zu Heidel¬ berg 1807—1811, zu Berlin bis an seinen Tod 1846), her während seines Aufenthalts in Heidelberg hauptsächlich die Kritik in den Jahrbüchern- besorgte. Noch in Erlangen hatte er 1806 eine allgemeine Kirchengeschichte geschrieben, die aber nur bis 604 ging und den Formalismus der Kantischen Schule mit einer bilderreichen Rhetorik verband. Die Religion erschien ihm als das Princip und der Geist der Weltgeschichte, und sehr entschieden wies er die blos moralische Bedeutung des Christenthums zurück. Seine Abhandlung in den „Studien" von 1807: „Ursprung und Entwicklung der Orthodoxie und Heterodoxie in den ersten drei Jahrhunderten des Christenthums" enthält eine geistvolle Verallgemeinerung der Daubschen Ideen. Die Polarität der Gegen¬ sätze liegt nicht blos, wie Daub meint, im Wesen des deutschen Volks, sondern bereits im Wesen der christlichen Kirche. Schon der Monotheismus bedingt die Orthodoxie; die Katholicität, unmöglich im Judenthum, geht aus dem universellen Streben des Christenthums hervor; durch diese Geschlossenheit wird der Gegensatz, die freie Speculation hervorgerufen, und erst durch diese erhält die Kirche ihren Inhalt. Das rechtgläubige System ist nicht von vorn¬ herein fertig; es entsteht erst, indem die Kirche Mittel findet, auf eine gesetz¬ liche Art (Concilien, Papst) über die verschiedenen Speculationen zu urtheilen, und das Fremdartige von sich auszuscheiden. Jede neue Ketzerei erweitert den Inhalt des „rechten Glaubens", der ohne sie leer bliebe. Aber auch innerhalb der rechtgläubigen Kirche geht das Räsonnement immer über die enge Formel hinaus, und so findet der Protestantismus seine Verbündeten im Mittelpunkt des Glaubens selbst. Die Kirche hat alles, auch ihre Lehre, ihren Gegnern zu danken (,^es muß ja Aergerniß geben!") und diese wiederum finden ihren Halt und ihr Vorbild in der Kirche, der sie sich entziehn. Wie dieser Gegensatz sich Schritt sür Schritt in den drei ersten Jahrhunderten ent¬ wickelte, ist mit großem Scharfsinn gezeigt. — Erweitert wird der Gesichts¬ punkt in den Studien von 1808„Ueber den wahren Sinn der Tradition im katholischen Lehrbegriff". Schon Lessing hatte nachgewiesen, daß mit dem Anfachen Gegensatz, Schrift und Ueberlieferung, die historische Begründung der beiden Kirchen nicht zu erledigen sei, daß auch die Protestanten eine ge¬ wisse Ueberlieferung (die rsFuIg. üäei) gelten lassen: den consensus Mrum, so weit er der Schrift nicht widerspricht. Marheineke geht mehr aufs Ein¬ zelne; er zeigt, daß die Unsicherheit, wie weit man sich an die Ueberlieferung Zu halten habe, nicht blos auf Seite der Protestanten sei, daß die Kirche dar¬ über lange geschwankt habe, und nur, um sich den Gründen der Ketzer zu entzieh«, die freie Untersuchung der Schrift den Laien entzogen habe. Er Grenzboten III. 1853. 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/417>, abgerufen am 23.07.2024.