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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Offenbarung Gottes zunächst nicht in der Natur, nicht in einer Schrift, son¬
dern in der Vernunft selbst. Die Religion ist nicht durch menschlichen Witz
erfunden, nicht durch die Natur, ihre Schrecken und ihre Wunder im Menschen
hervorgebracht, überhaupt nicht entstanden; sondern ewig wie Gott selbst geht
sie aus Gott hervor als sein Wissen von sich selbst. Sie scheint im Menschen
zu entstehen: eigentlich aber entsteht der Mensch für sie; nicht sie erzeugt sich
aus ihm, sondern er wird in sie hinein geboren. Da die göttliche Offen¬
barung, an sich für alle Zeiten und Orte dieselbe ist (in dieser Hinsicht sind
alle Religionen geoffenbart): so können die Unterschiede einer Religion von
der andern nur in dem verschiedenen Charakter der Völker und Zeitalter ge¬
gründet sein, durch welche als mehr oder minder getrübte Medien der Strahl
jener göttlichen Offenbarung hindurchgehen muß. Hat ein Volk oder eine
Zeit besondere Empfänglichkeit und ausgezeichnetes Geschick für das Schöne
und Erhabene: so werden sie ihr Ahnen und Erkennen des Göttlichen am
liebsten in mythologische Gewänder hüllen; wo der Sinn sür Wahrheit vor¬
herrscht, da entsteht die symbolische Religion; wo sür das Gute und Sitt¬
liche, da wird eine gnvmologische Form sich angemessener zeigen -- Formen,
welche indeß theils jede innerhalb ihrer selbst wieder mannigfaltige Unter¬
schiede haben, theils sich in verschiedenen Verhältnissen miteinander mischen.
Unter den verschiedenen Religionen ist die christliche, der beiden letzten For¬
men sich fast ausschließlich bedienend, ohne die Urreligion selbst zu sein, doch
diejenige, welche dieser am nächsten kommt und sie nach Inhalt und FöriN
auf die vollkommenste, man kann sagen auf absolute Weist, in sich darstellt.
-- Für das Verständniß der Religion ist die Philosophie eine unvermeidliche
Vorbcveitungswissenschaft. -- Bei der überwiegend speculativen Aufgabe der
Dogmatik") tritt diesmal die Dreieinigkeit in den Mittelpunkt, ein Dogma,
welches durch die ausschließlich praktische Richtung der kritischen Philosophie
mis gleichgültig bei Seite gestellt war. In der That läßt sich eine moralische
Nutzanwendung aus der Dreieinigkeit nicht herleiten und das Gefühl kann
sich ebenso wenig daran erwärmen, daher hat sie Schleiermacher ebenso flüch¬
tig behandelt als Kant. Für die grübelnde Speculation hingegen ist dieses
Dogma ein höchst ergiebiges Feld, und man kann nicht leugnen, daß bereits
aus dem bloßen Begriff des absoluten Wesens, ganz abgesehen von der kirch¬
lichen Ueberlieferung, sich etwas deduciren läßt, was ungefähr der Dreieinig¬
keit des Katechismus entspricht. Zwei Wescnsbestimmungcn treten bei Gott
für das Nachdenken augenblicklich hervor: er ist zunächst der Ewige. Unver¬
änderliche, der in unendlicher Vollkommenheit bei sich selbst bleibt und keines



-) Die Überschriften der Dogmatik erinnern an die spätern bei Hegel: "Die Eitelkeit der
Dinge und das Wesen;" ,,der Trieb und das Beständige;" "der Trieb und das Praktische
u. s.' w.

Offenbarung Gottes zunächst nicht in der Natur, nicht in einer Schrift, son¬
dern in der Vernunft selbst. Die Religion ist nicht durch menschlichen Witz
erfunden, nicht durch die Natur, ihre Schrecken und ihre Wunder im Menschen
hervorgebracht, überhaupt nicht entstanden; sondern ewig wie Gott selbst geht
sie aus Gott hervor als sein Wissen von sich selbst. Sie scheint im Menschen
zu entstehen: eigentlich aber entsteht der Mensch für sie; nicht sie erzeugt sich
aus ihm, sondern er wird in sie hinein geboren. Da die göttliche Offen¬
barung, an sich für alle Zeiten und Orte dieselbe ist (in dieser Hinsicht sind
alle Religionen geoffenbart): so können die Unterschiede einer Religion von
der andern nur in dem verschiedenen Charakter der Völker und Zeitalter ge¬
gründet sein, durch welche als mehr oder minder getrübte Medien der Strahl
jener göttlichen Offenbarung hindurchgehen muß. Hat ein Volk oder eine
Zeit besondere Empfänglichkeit und ausgezeichnetes Geschick für das Schöne
und Erhabene: so werden sie ihr Ahnen und Erkennen des Göttlichen am
liebsten in mythologische Gewänder hüllen; wo der Sinn sür Wahrheit vor¬
herrscht, da entsteht die symbolische Religion; wo sür das Gute und Sitt¬
liche, da wird eine gnvmologische Form sich angemessener zeigen — Formen,
welche indeß theils jede innerhalb ihrer selbst wieder mannigfaltige Unter¬
schiede haben, theils sich in verschiedenen Verhältnissen miteinander mischen.
Unter den verschiedenen Religionen ist die christliche, der beiden letzten For¬
men sich fast ausschließlich bedienend, ohne die Urreligion selbst zu sein, doch
diejenige, welche dieser am nächsten kommt und sie nach Inhalt und FöriN
auf die vollkommenste, man kann sagen auf absolute Weist, in sich darstellt.
— Für das Verständniß der Religion ist die Philosophie eine unvermeidliche
Vorbcveitungswissenschaft. — Bei der überwiegend speculativen Aufgabe der
Dogmatik") tritt diesmal die Dreieinigkeit in den Mittelpunkt, ein Dogma,
welches durch die ausschließlich praktische Richtung der kritischen Philosophie
mis gleichgültig bei Seite gestellt war. In der That läßt sich eine moralische
Nutzanwendung aus der Dreieinigkeit nicht herleiten und das Gefühl kann
sich ebenso wenig daran erwärmen, daher hat sie Schleiermacher ebenso flüch¬
tig behandelt als Kant. Für die grübelnde Speculation hingegen ist dieses
Dogma ein höchst ergiebiges Feld, und man kann nicht leugnen, daß bereits
aus dem bloßen Begriff des absoluten Wesens, ganz abgesehen von der kirch¬
lichen Ueberlieferung, sich etwas deduciren läßt, was ungefähr der Dreieinig¬
keit des Katechismus entspricht. Zwei Wescnsbestimmungcn treten bei Gott
für das Nachdenken augenblicklich hervor: er ist zunächst der Ewige. Unver¬
änderliche, der in unendlicher Vollkommenheit bei sich selbst bleibt und keines



-) Die Überschriften der Dogmatik erinnern an die spätern bei Hegel: „Die Eitelkeit der
Dinge und das Wesen;" ,,der Trieb und das Beständige;" „der Trieb und das Praktische
u. s.' w.
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[0414] Offenbarung Gottes zunächst nicht in der Natur, nicht in einer Schrift, son¬ dern in der Vernunft selbst. Die Religion ist nicht durch menschlichen Witz erfunden, nicht durch die Natur, ihre Schrecken und ihre Wunder im Menschen hervorgebracht, überhaupt nicht entstanden; sondern ewig wie Gott selbst geht sie aus Gott hervor als sein Wissen von sich selbst. Sie scheint im Menschen zu entstehen: eigentlich aber entsteht der Mensch für sie; nicht sie erzeugt sich aus ihm, sondern er wird in sie hinein geboren. Da die göttliche Offen¬ barung, an sich für alle Zeiten und Orte dieselbe ist (in dieser Hinsicht sind alle Religionen geoffenbart): so können die Unterschiede einer Religion von der andern nur in dem verschiedenen Charakter der Völker und Zeitalter ge¬ gründet sein, durch welche als mehr oder minder getrübte Medien der Strahl jener göttlichen Offenbarung hindurchgehen muß. Hat ein Volk oder eine Zeit besondere Empfänglichkeit und ausgezeichnetes Geschick für das Schöne und Erhabene: so werden sie ihr Ahnen und Erkennen des Göttlichen am liebsten in mythologische Gewänder hüllen; wo der Sinn sür Wahrheit vor¬ herrscht, da entsteht die symbolische Religion; wo sür das Gute und Sitt¬ liche, da wird eine gnvmologische Form sich angemessener zeigen — Formen, welche indeß theils jede innerhalb ihrer selbst wieder mannigfaltige Unter¬ schiede haben, theils sich in verschiedenen Verhältnissen miteinander mischen. Unter den verschiedenen Religionen ist die christliche, der beiden letzten For¬ men sich fast ausschließlich bedienend, ohne die Urreligion selbst zu sein, doch diejenige, welche dieser am nächsten kommt und sie nach Inhalt und FöriN auf die vollkommenste, man kann sagen auf absolute Weist, in sich darstellt. — Für das Verständniß der Religion ist die Philosophie eine unvermeidliche Vorbcveitungswissenschaft. — Bei der überwiegend speculativen Aufgabe der Dogmatik") tritt diesmal die Dreieinigkeit in den Mittelpunkt, ein Dogma, welches durch die ausschließlich praktische Richtung der kritischen Philosophie mis gleichgültig bei Seite gestellt war. In der That läßt sich eine moralische Nutzanwendung aus der Dreieinigkeit nicht herleiten und das Gefühl kann sich ebenso wenig daran erwärmen, daher hat sie Schleiermacher ebenso flüch¬ tig behandelt als Kant. Für die grübelnde Speculation hingegen ist dieses Dogma ein höchst ergiebiges Feld, und man kann nicht leugnen, daß bereits aus dem bloßen Begriff des absoluten Wesens, ganz abgesehen von der kirch¬ lichen Ueberlieferung, sich etwas deduciren läßt, was ungefähr der Dreieinig¬ keit des Katechismus entspricht. Zwei Wescnsbestimmungcn treten bei Gott für das Nachdenken augenblicklich hervor: er ist zunächst der Ewige. Unver¬ änderliche, der in unendlicher Vollkommenheit bei sich selbst bleibt und keines -) Die Überschriften der Dogmatik erinnern an die spätern bei Hegel: „Die Eitelkeit der Dinge und das Wesen;" ,,der Trieb und das Beständige;" „der Trieb und das Praktische u. s.' w.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/414>, abgerufen am 23.07.2024.