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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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der Zahl nach im Lande eine kleine Minorität. Aber sie bildeten den Mittel¬
punkt, an den die großen nationalen Fragen sich anschlössen, um den sie selber
ausgekämpft wurden. Nun sind in der Periode von 1815--1846 so viele
große Principienfragen durchgekämpft und endgiltig entschieden, daß es nicht
Wunder nehmen darf, wenn auf diesen langen Streit eine Periode der Ruhe,
ja der Erschöpfung der Streitenden gefolgt ist. Man werfe nur einen Blick
auf jene Epoche, und erwäge, was in ihr geleistet wurde, die Wiederaufnahme
der Baarzahlungen der Bank und die Herstellung des Münzfußes, die Emanci¬
pation der Katholiken, die Reformacte, die Baulande, die Aufhebung der Korngesetze
und die Durchführung des Freihandels, wahrlich genug für mehr als ein Menschen¬
alter. Nun ist es eine nicht immer beobachtete, aber doch unbestreitbare Er¬
scheinung, daß die Parteien durch keine große Frage passiren, ohne sich selbst
mehr oder weniger zu verändern; durch jene sich verhältnißmüßig rasch folgen¬
den großen Debatten wurden sie durchgerüttelt und in ihrer alten Organisation
erschüttert. Man hat dies lediglich auf die Reformacte geschoben, aber mit
Unrecht. Während des zweiten und dritten Parlamentes leitete Sir Robert
Peel eine kräftige und disciplinirte Opposition der Tories gegen die whiggistischen
Ministerien von Lord Melbourne und Lord John Rüssel, und 1846 bei der
großen Frcihandelsdebatte waren die Parteigegensätze so scharf, wie jemals
im Hause der Gemeinen. Der Grund ist einfach der, daß es sich um große,
sich widerstreitende Interessen handelte, und wenn man auf die frühere parla¬
mentarische Geschichte zurückblickt, so wird man sehen, daß auch früher, wenn
jener Widerstreit fehlte oder ruhte, die Grenzlinien der Parteien verschwamme".
Wenn man von Whigs und Tories spricht, so denkt man gewöhnlich nur an
die Epoche der englischen Revolution, wo jene beiden Parteien sich bildeten,
an den Streit gegen die französische Revolution und die Gegensätze der zwan¬
ziger Jahre dieses Jahrhunderts. Aber zwischen diesen Epochen gab es Zeiten,
wo sich diese beiden Parteien proteisch veränderten und ihre Grundsätze mo-
dificirten; man denke an die Spaltungen der Whigs unter dem ersten We,
wie unter dem zweiten. 1804 ferner war der Unterschied zwischen Whigs und
Tories so verwischt, daß Pitt und Fox einer Einigung näher waren als 18SS
Lord Palmerston und Lord Derby; sie stimmten in allen Hauptfragen überein,
beide wollten damals eine kräftige Fortführung des Kriegs, beide waren M
die Emancipation der Katholiken, beide wollten eine parlamentansche Reform,
nur der Widerwille des Königs gegen Fox verhinderte damals diese Vereini¬
gung. 1812 endlich waren die Fragen, in welchen Tories und Whigs aus¬
einandergingen, nur von untergeordneter Bedeutung. Wir ersehen also, daß
vor 1832 mehrfach eine vollkommne Verschiebung der Parteien stattgefunden
hat, und finden dagegen in der neuen Zusammensetzung des Unterhauses sich
die Gegensatze zur vollsten Schärfe erheben. Wir dürfen daher unsre frühere


der Zahl nach im Lande eine kleine Minorität. Aber sie bildeten den Mittel¬
punkt, an den die großen nationalen Fragen sich anschlössen, um den sie selber
ausgekämpft wurden. Nun sind in der Periode von 1815—1846 so viele
große Principienfragen durchgekämpft und endgiltig entschieden, daß es nicht
Wunder nehmen darf, wenn auf diesen langen Streit eine Periode der Ruhe,
ja der Erschöpfung der Streitenden gefolgt ist. Man werfe nur einen Blick
auf jene Epoche, und erwäge, was in ihr geleistet wurde, die Wiederaufnahme
der Baarzahlungen der Bank und die Herstellung des Münzfußes, die Emanci¬
pation der Katholiken, die Reformacte, die Baulande, die Aufhebung der Korngesetze
und die Durchführung des Freihandels, wahrlich genug für mehr als ein Menschen¬
alter. Nun ist es eine nicht immer beobachtete, aber doch unbestreitbare Er¬
scheinung, daß die Parteien durch keine große Frage passiren, ohne sich selbst
mehr oder weniger zu verändern; durch jene sich verhältnißmüßig rasch folgen¬
den großen Debatten wurden sie durchgerüttelt und in ihrer alten Organisation
erschüttert. Man hat dies lediglich auf die Reformacte geschoben, aber mit
Unrecht. Während des zweiten und dritten Parlamentes leitete Sir Robert
Peel eine kräftige und disciplinirte Opposition der Tories gegen die whiggistischen
Ministerien von Lord Melbourne und Lord John Rüssel, und 1846 bei der
großen Frcihandelsdebatte waren die Parteigegensätze so scharf, wie jemals
im Hause der Gemeinen. Der Grund ist einfach der, daß es sich um große,
sich widerstreitende Interessen handelte, und wenn man auf die frühere parla¬
mentarische Geschichte zurückblickt, so wird man sehen, daß auch früher, wenn
jener Widerstreit fehlte oder ruhte, die Grenzlinien der Parteien verschwamme«.
Wenn man von Whigs und Tories spricht, so denkt man gewöhnlich nur an
die Epoche der englischen Revolution, wo jene beiden Parteien sich bildeten,
an den Streit gegen die französische Revolution und die Gegensätze der zwan¬
ziger Jahre dieses Jahrhunderts. Aber zwischen diesen Epochen gab es Zeiten,
wo sich diese beiden Parteien proteisch veränderten und ihre Grundsätze mo-
dificirten; man denke an die Spaltungen der Whigs unter dem ersten We,
wie unter dem zweiten. 1804 ferner war der Unterschied zwischen Whigs und
Tories so verwischt, daß Pitt und Fox einer Einigung näher waren als 18SS
Lord Palmerston und Lord Derby; sie stimmten in allen Hauptfragen überein,
beide wollten damals eine kräftige Fortführung des Kriegs, beide waren M
die Emancipation der Katholiken, beide wollten eine parlamentansche Reform,
nur der Widerwille des Königs gegen Fox verhinderte damals diese Vereini¬
gung. 1812 endlich waren die Fragen, in welchen Tories und Whigs aus¬
einandergingen, nur von untergeordneter Bedeutung. Wir ersehen also, daß
vor 1832 mehrfach eine vollkommne Verschiebung der Parteien stattgefunden
hat, und finden dagegen in der neuen Zusammensetzung des Unterhauses sich
die Gegensatze zur vollsten Schärfe erheben. Wir dürfen daher unsre frühere


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[0370] der Zahl nach im Lande eine kleine Minorität. Aber sie bildeten den Mittel¬ punkt, an den die großen nationalen Fragen sich anschlössen, um den sie selber ausgekämpft wurden. Nun sind in der Periode von 1815—1846 so viele große Principienfragen durchgekämpft und endgiltig entschieden, daß es nicht Wunder nehmen darf, wenn auf diesen langen Streit eine Periode der Ruhe, ja der Erschöpfung der Streitenden gefolgt ist. Man werfe nur einen Blick auf jene Epoche, und erwäge, was in ihr geleistet wurde, die Wiederaufnahme der Baarzahlungen der Bank und die Herstellung des Münzfußes, die Emanci¬ pation der Katholiken, die Reformacte, die Baulande, die Aufhebung der Korngesetze und die Durchführung des Freihandels, wahrlich genug für mehr als ein Menschen¬ alter. Nun ist es eine nicht immer beobachtete, aber doch unbestreitbare Er¬ scheinung, daß die Parteien durch keine große Frage passiren, ohne sich selbst mehr oder weniger zu verändern; durch jene sich verhältnißmüßig rasch folgen¬ den großen Debatten wurden sie durchgerüttelt und in ihrer alten Organisation erschüttert. Man hat dies lediglich auf die Reformacte geschoben, aber mit Unrecht. Während des zweiten und dritten Parlamentes leitete Sir Robert Peel eine kräftige und disciplinirte Opposition der Tories gegen die whiggistischen Ministerien von Lord Melbourne und Lord John Rüssel, und 1846 bei der großen Frcihandelsdebatte waren die Parteigegensätze so scharf, wie jemals im Hause der Gemeinen. Der Grund ist einfach der, daß es sich um große, sich widerstreitende Interessen handelte, und wenn man auf die frühere parla¬ mentarische Geschichte zurückblickt, so wird man sehen, daß auch früher, wenn jener Widerstreit fehlte oder ruhte, die Grenzlinien der Parteien verschwamme«. Wenn man von Whigs und Tories spricht, so denkt man gewöhnlich nur an die Epoche der englischen Revolution, wo jene beiden Parteien sich bildeten, an den Streit gegen die französische Revolution und die Gegensätze der zwan¬ ziger Jahre dieses Jahrhunderts. Aber zwischen diesen Epochen gab es Zeiten, wo sich diese beiden Parteien proteisch veränderten und ihre Grundsätze mo- dificirten; man denke an die Spaltungen der Whigs unter dem ersten We, wie unter dem zweiten. 1804 ferner war der Unterschied zwischen Whigs und Tories so verwischt, daß Pitt und Fox einer Einigung näher waren als 18SS Lord Palmerston und Lord Derby; sie stimmten in allen Hauptfragen überein, beide wollten damals eine kräftige Fortführung des Kriegs, beide waren M die Emancipation der Katholiken, beide wollten eine parlamentansche Reform, nur der Widerwille des Königs gegen Fox verhinderte damals diese Vereini¬ gung. 1812 endlich waren die Fragen, in welchen Tories und Whigs aus¬ einandergingen, nur von untergeordneter Bedeutung. Wir ersehen also, daß vor 1832 mehrfach eine vollkommne Verschiebung der Parteien stattgefunden hat, und finden dagegen in der neuen Zusammensetzung des Unterhauses sich die Gegensatze zur vollsten Schärfe erheben. Wir dürfen daher unsre frühere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/370>, abgerufen am 22.07.2024.