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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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überraschendes Licht, sodann zeigen sie die Entwicklungen einer durchaus edlen
und schönen Natur von den ersten Zerwürfnissen des Zweifels bis zur voll¬
endeten männlichen Bildung; ein reiches und bedeutendes Leben, das uns
zugleich versinnlicht, aus welchen verschiedenen Elementen das neue religiöse
Princip, das so folgenreich in die Zeitbewegung eingriff, sich zusammenfügte.
Um den Endeindruck gleich zusammenzufassen, obgleich wir wohl wissen, daß
wir damit einer weitverbreiteten Meinung wol widersprechen: Schleiermacher
erscheint uns aus diesen Briefen nicht als eine mächtige, mit innerer Noth¬
wendigkeit reformatorische Natur; was in seinem Charakter zunächst hervor¬
tritt, ist einmal eine hochherzige Rechtschaffenheit, sodann das Bedürfniß und
das Talent, alle schönen Gefühlsmotive, von welcher Seite sie ihm auch ent¬
gegentraten, in sich aufzunehmen und zu erklären. Es liegt in feinem We¬
sen etwas Weibliches, und sein Anschmiegen an stärkere Naturen, denen er
sich unterordnete, wird dadurch noch bezeichnender, daß zu diesen stärkeren
Naturen Friedrich Schlegel und Steffens gehörten.

Der Dank, den wir vorher aussprachen, soll durch das Bedauern nicht
verkümmert werden, daß man sich nicht entschlossen hat, uns die Briefe un-
verstümmelt zu geben. Wir verkennen die edlen Motive dieser Zurückhaltung
keineswegs. Wenn in jeder Publication von Herzensergüssen, die nur für
eine bestimmte Person berechnet waren, etwas Peinliches liegt, so begreifen
wir doppelt die Scheu, Mittheilungen zu veröffentlichen, die in das innerste
Leben einer fremden Familie eingreifen. Dennoch zweifeln wir, ob diesmal
die Bedenken gerechtfertigt waren. Es handelt sich theils um den Briefwechsel
mit Eleonore Grunow (aus einer sonderbaren Discretion bezeichnen die
Herausgeber diesen Namen, der längst veröffentlicht ist, nur mit den Anfangs¬
buchstaben,) theils um diejenigen Stellen, die über die Lucinde handeln.
Freilich ist es nur Vermuthung, daß in letzterer Beziehung etwas unterdrückt
ist, aber es wäre doch wunderbar, wenn Schleiermacher, der sich über seine
sonstigen Arbeiten so ausführlich verbreitete, gerade über die "Vertrauten
Briefe", die doch seinen Freunden gegenüber einer Erläuterung bedurften, so
hartnäckig geschwiegen haben sollte. Beides sind höchst wichtige Momente in
Schleiermachers Entwicklung, und wir sind fest davon überzeugt, daß die
vollständige Veröffentlichung dieser Documente nur zu seiner Ehre ausschlagen
würde, selbst wenn er in wichtigen sittlichen Fragen geirrt haben sollte; halb
verhüllt, wie es jetzt daliegt, hat das Verhältniß etwas Unheimliches. Außer¬
dem wäre es für die Einsicht in Schleiermachers Charakter von der größten
Wichtigkeit, ihn einmal im Zustand wirklicher Leidenschaft zu betrachten; in
dem Briefwechsel mit seiner Braut und später mit seiner Frau ist davon nichts
vorhanden, und so wohlthuend der Eindruck ist. den diese Zeugnisse eines
wahrhaft sittlichen Haushalts, eines auf ruhiger Neigung und Verehrung be-


überraschendes Licht, sodann zeigen sie die Entwicklungen einer durchaus edlen
und schönen Natur von den ersten Zerwürfnissen des Zweifels bis zur voll¬
endeten männlichen Bildung; ein reiches und bedeutendes Leben, das uns
zugleich versinnlicht, aus welchen verschiedenen Elementen das neue religiöse
Princip, das so folgenreich in die Zeitbewegung eingriff, sich zusammenfügte.
Um den Endeindruck gleich zusammenzufassen, obgleich wir wohl wissen, daß
wir damit einer weitverbreiteten Meinung wol widersprechen: Schleiermacher
erscheint uns aus diesen Briefen nicht als eine mächtige, mit innerer Noth¬
wendigkeit reformatorische Natur; was in seinem Charakter zunächst hervor¬
tritt, ist einmal eine hochherzige Rechtschaffenheit, sodann das Bedürfniß und
das Talent, alle schönen Gefühlsmotive, von welcher Seite sie ihm auch ent¬
gegentraten, in sich aufzunehmen und zu erklären. Es liegt in feinem We¬
sen etwas Weibliches, und sein Anschmiegen an stärkere Naturen, denen er
sich unterordnete, wird dadurch noch bezeichnender, daß zu diesen stärkeren
Naturen Friedrich Schlegel und Steffens gehörten.

Der Dank, den wir vorher aussprachen, soll durch das Bedauern nicht
verkümmert werden, daß man sich nicht entschlossen hat, uns die Briefe un-
verstümmelt zu geben. Wir verkennen die edlen Motive dieser Zurückhaltung
keineswegs. Wenn in jeder Publication von Herzensergüssen, die nur für
eine bestimmte Person berechnet waren, etwas Peinliches liegt, so begreifen
wir doppelt die Scheu, Mittheilungen zu veröffentlichen, die in das innerste
Leben einer fremden Familie eingreifen. Dennoch zweifeln wir, ob diesmal
die Bedenken gerechtfertigt waren. Es handelt sich theils um den Briefwechsel
mit Eleonore Grunow (aus einer sonderbaren Discretion bezeichnen die
Herausgeber diesen Namen, der längst veröffentlicht ist, nur mit den Anfangs¬
buchstaben,) theils um diejenigen Stellen, die über die Lucinde handeln.
Freilich ist es nur Vermuthung, daß in letzterer Beziehung etwas unterdrückt
ist, aber es wäre doch wunderbar, wenn Schleiermacher, der sich über seine
sonstigen Arbeiten so ausführlich verbreitete, gerade über die „Vertrauten
Briefe", die doch seinen Freunden gegenüber einer Erläuterung bedurften, so
hartnäckig geschwiegen haben sollte. Beides sind höchst wichtige Momente in
Schleiermachers Entwicklung, und wir sind fest davon überzeugt, daß die
vollständige Veröffentlichung dieser Documente nur zu seiner Ehre ausschlagen
würde, selbst wenn er in wichtigen sittlichen Fragen geirrt haben sollte; halb
verhüllt, wie es jetzt daliegt, hat das Verhältniß etwas Unheimliches. Außer¬
dem wäre es für die Einsicht in Schleiermachers Charakter von der größten
Wichtigkeit, ihn einmal im Zustand wirklicher Leidenschaft zu betrachten; in
dem Briefwechsel mit seiner Braut und später mit seiner Frau ist davon nichts
vorhanden, und so wohlthuend der Eindruck ist. den diese Zeugnisse eines
wahrhaft sittlichen Haushalts, eines auf ruhiger Neigung und Verehrung be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/302>, abgerufen am 22.07.2024.