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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Weise mit hineingezogen zu werden. Dürfte man aus der Leidenschaft, mit
der die Bevölkerung der großen Städte Jahrhunderte lang an diesem Schau¬
spiel hing, auf die Vortrefflichkeit der Kunstleistungen schließen, so könnte
man kaum einen zu hohen Begriff von ihnen süssen; der Beifall ging bis zur
Raserei, und es war nicht selten, daß die Zuschauer bei rührenden Scenen in
Thränen ausbrachen. Doch wenn auch ohne Zweifel die besten Künstler ihre
Erfolge einer geistvollen, durchdachten und künstlerisch schönen Darstellung ver¬
dankten, so lag doch der Zauber, den dies Schauspiel auf die Mehrzahl aus¬
übte, in seinem sinnlichen Reiz. Eine tadellose jugendliche Gestalt war sür
den Pantomimen unerläßlich, in ihm sollte man nach der Ansicht eines an¬
tiken Kunstenthusiasten den Kanon des Polyklet verkörpert sehen. Eine reiche
Lockensülle, nach antiken Begriffen ein noch wesentlicherer Theil der jugend¬
lichen Schönheit als nach modernen, durfte nicht fehlen. Die Zuschauer
waren gegen Mängel der äußern Erscheinung unnachsichtig. Als ein kleiner
Pantomime in Antiochia als Hektor auftrat, rief man aus dem Publi-
cum- Das ist Astyanax, wo ist denn Hektor? Als ein sehr langer Tänzer den
Kapancus beim Sturm auf Theben darstellte, hieß es: Du brauchst keine Leiter,
steige nur über die Mauer. Einem magern wurde zugerufen: Gute Besserung!
u. s. w. Durch unablässige Uebung und Beobachtung einer gewissen Diät
erwarben sich die Pantomimen eine unbedingte Herrschaft über ihren Körper,
eine Gelenkigkeit, Geschmeidigkeit und Elasticität, die sie in den Stand feste,
auch die schwierigsten Bewegungen mit Anmuth, Weichheit und Eleganz aus¬
zuführen. Bei schlüpfrigen Gegenständen galt auf der damaligen Bühne das
Aeußerste für erlaubt, an wollüstiger Ueppigkeit und Zuchtlosigkeit scheinen die
schlimmsten pantomimischen Darstellungen den Tänzen der ägyptischen Almchs
kaum nachgestanden zu haben. Die Wirkungen solcher Schauspiele auf die
Sittlichkeit stellt man sich anch ohne die Schilderungen der Zeitgenossen vor,
besonders wurden sie von Frauen mit Leidenschaft besucht. Ein späterer
Geschichtschreiber der Kaiserzeit sah in den Pantomimen eine Hauptursache des
Falls des römischen Reichs.

Der Chor, der die Darstellung durch seinen Gesang begleitete, erschien
ebenfalls in prächtigem Costüm. Ihn hatte statt des einzelnen Sängers, der
in der Tragödie die lyrischen solos vortrug. Pylades eingeführt, und statt
der einfachen Flötenbegleitung ein stark instrumentirtes Orchester. Auf die
Frage, worin seine Reform der Darstellung bestehe, soll er mit einem homeri¬
schen Verse geantwortet haben: "In der Flöten und Pfeifen Getön und der
Menschen Getümmel." Aber auch Syringen und Eymbeln. Cyther und Lyra
gehörten zu diesem Orchester, und der Takt wurde durch ein Stampfen mit
eisernen Sohlen markirt; natürlich hatte die Musik zugleich den Zweck, tue
rhythmischen Bewegungen des Tänzers zu leiten. Ueber den Kunstwerth dieser


Weise mit hineingezogen zu werden. Dürfte man aus der Leidenschaft, mit
der die Bevölkerung der großen Städte Jahrhunderte lang an diesem Schau¬
spiel hing, auf die Vortrefflichkeit der Kunstleistungen schließen, so könnte
man kaum einen zu hohen Begriff von ihnen süssen; der Beifall ging bis zur
Raserei, und es war nicht selten, daß die Zuschauer bei rührenden Scenen in
Thränen ausbrachen. Doch wenn auch ohne Zweifel die besten Künstler ihre
Erfolge einer geistvollen, durchdachten und künstlerisch schönen Darstellung ver¬
dankten, so lag doch der Zauber, den dies Schauspiel auf die Mehrzahl aus¬
übte, in seinem sinnlichen Reiz. Eine tadellose jugendliche Gestalt war sür
den Pantomimen unerläßlich, in ihm sollte man nach der Ansicht eines an¬
tiken Kunstenthusiasten den Kanon des Polyklet verkörpert sehen. Eine reiche
Lockensülle, nach antiken Begriffen ein noch wesentlicherer Theil der jugend¬
lichen Schönheit als nach modernen, durfte nicht fehlen. Die Zuschauer
waren gegen Mängel der äußern Erscheinung unnachsichtig. Als ein kleiner
Pantomime in Antiochia als Hektor auftrat, rief man aus dem Publi-
cum- Das ist Astyanax, wo ist denn Hektor? Als ein sehr langer Tänzer den
Kapancus beim Sturm auf Theben darstellte, hieß es: Du brauchst keine Leiter,
steige nur über die Mauer. Einem magern wurde zugerufen: Gute Besserung!
u. s. w. Durch unablässige Uebung und Beobachtung einer gewissen Diät
erwarben sich die Pantomimen eine unbedingte Herrschaft über ihren Körper,
eine Gelenkigkeit, Geschmeidigkeit und Elasticität, die sie in den Stand feste,
auch die schwierigsten Bewegungen mit Anmuth, Weichheit und Eleganz aus¬
zuführen. Bei schlüpfrigen Gegenständen galt auf der damaligen Bühne das
Aeußerste für erlaubt, an wollüstiger Ueppigkeit und Zuchtlosigkeit scheinen die
schlimmsten pantomimischen Darstellungen den Tänzen der ägyptischen Almchs
kaum nachgestanden zu haben. Die Wirkungen solcher Schauspiele auf die
Sittlichkeit stellt man sich anch ohne die Schilderungen der Zeitgenossen vor,
besonders wurden sie von Frauen mit Leidenschaft besucht. Ein späterer
Geschichtschreiber der Kaiserzeit sah in den Pantomimen eine Hauptursache des
Falls des römischen Reichs.

Der Chor, der die Darstellung durch seinen Gesang begleitete, erschien
ebenfalls in prächtigem Costüm. Ihn hatte statt des einzelnen Sängers, der
in der Tragödie die lyrischen solos vortrug. Pylades eingeführt, und statt
der einfachen Flötenbegleitung ein stark instrumentirtes Orchester. Auf die
Frage, worin seine Reform der Darstellung bestehe, soll er mit einem homeri¬
schen Verse geantwortet haben: „In der Flöten und Pfeifen Getön und der
Menschen Getümmel." Aber auch Syringen und Eymbeln. Cyther und Lyra
gehörten zu diesem Orchester, und der Takt wurde durch ein Stampfen mit
eisernen Sohlen markirt; natürlich hatte die Musik zugleich den Zweck, tue
rhythmischen Bewegungen des Tänzers zu leiten. Ueber den Kunstwerth dieser


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[0296] Weise mit hineingezogen zu werden. Dürfte man aus der Leidenschaft, mit der die Bevölkerung der großen Städte Jahrhunderte lang an diesem Schau¬ spiel hing, auf die Vortrefflichkeit der Kunstleistungen schließen, so könnte man kaum einen zu hohen Begriff von ihnen süssen; der Beifall ging bis zur Raserei, und es war nicht selten, daß die Zuschauer bei rührenden Scenen in Thränen ausbrachen. Doch wenn auch ohne Zweifel die besten Künstler ihre Erfolge einer geistvollen, durchdachten und künstlerisch schönen Darstellung ver¬ dankten, so lag doch der Zauber, den dies Schauspiel auf die Mehrzahl aus¬ übte, in seinem sinnlichen Reiz. Eine tadellose jugendliche Gestalt war sür den Pantomimen unerläßlich, in ihm sollte man nach der Ansicht eines an¬ tiken Kunstenthusiasten den Kanon des Polyklet verkörpert sehen. Eine reiche Lockensülle, nach antiken Begriffen ein noch wesentlicherer Theil der jugend¬ lichen Schönheit als nach modernen, durfte nicht fehlen. Die Zuschauer waren gegen Mängel der äußern Erscheinung unnachsichtig. Als ein kleiner Pantomime in Antiochia als Hektor auftrat, rief man aus dem Publi- cum- Das ist Astyanax, wo ist denn Hektor? Als ein sehr langer Tänzer den Kapancus beim Sturm auf Theben darstellte, hieß es: Du brauchst keine Leiter, steige nur über die Mauer. Einem magern wurde zugerufen: Gute Besserung! u. s. w. Durch unablässige Uebung und Beobachtung einer gewissen Diät erwarben sich die Pantomimen eine unbedingte Herrschaft über ihren Körper, eine Gelenkigkeit, Geschmeidigkeit und Elasticität, die sie in den Stand feste, auch die schwierigsten Bewegungen mit Anmuth, Weichheit und Eleganz aus¬ zuführen. Bei schlüpfrigen Gegenständen galt auf der damaligen Bühne das Aeußerste für erlaubt, an wollüstiger Ueppigkeit und Zuchtlosigkeit scheinen die schlimmsten pantomimischen Darstellungen den Tänzen der ägyptischen Almchs kaum nachgestanden zu haben. Die Wirkungen solcher Schauspiele auf die Sittlichkeit stellt man sich anch ohne die Schilderungen der Zeitgenossen vor, besonders wurden sie von Frauen mit Leidenschaft besucht. Ein späterer Geschichtschreiber der Kaiserzeit sah in den Pantomimen eine Hauptursache des Falls des römischen Reichs. Der Chor, der die Darstellung durch seinen Gesang begleitete, erschien ebenfalls in prächtigem Costüm. Ihn hatte statt des einzelnen Sängers, der in der Tragödie die lyrischen solos vortrug. Pylades eingeführt, und statt der einfachen Flötenbegleitung ein stark instrumentirtes Orchester. Auf die Frage, worin seine Reform der Darstellung bestehe, soll er mit einem homeri¬ schen Verse geantwortet haben: „In der Flöten und Pfeifen Getön und der Menschen Getümmel." Aber auch Syringen und Eymbeln. Cyther und Lyra gehörten zu diesem Orchester, und der Takt wurde durch ein Stampfen mit eisernen Sohlen markirt; natürlich hatte die Musik zugleich den Zweck, tue rhythmischen Bewegungen des Tänzers zu leiten. Ueber den Kunstwerth dieser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/296>, abgerufen am 23.07.2024.