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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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beim Abschied aus der Heimath, welche doch blos heimliche Auswanderung
verhindern soll und dennoch jeden Auswanderer als verdächtig behandelt, ebenso
wenig etwas an dieser Stimmung bessern, als die Aussicht, daß, wenn auch
die Auswanderung zur gemeinsamen deutschen Angelegenheit gemacht würde,
der deutsche Ausgewanderte dann blos Förderung und Unterstützung zu er¬
warten hat, falls er die octroyirten Wege und Ziele wählt.

Daß der Ausschußbericht vorläufig weder bestimmte Wege und Ziele in
Aussicht nahm, kann man nur anerkennen. "Wohin soll der Deutsche aus¬
wandern?" ist eine Frage, welche zu den offensten geHort, von denen die
Gegenwart bewegt wird. Und dies nicht erst neuerdings, aber neuerdings
wieder mehr als jemals. Denn grade das Hauptauswanderungsziel, die nord-
amerikanische Union, befindet sich in einer socialpolitischen Uebergangsepoche,
deren Entwicklungen vorläufig nicht entfernt abzusehen sind. Andere Ein¬
wanderungsländer, wie Mittelamerika, Mexiko, selbst Brasilien, scheinen eben¬
falls einer gewaltigen und entscheidenden Krisis entgegenzugehen, deren
Zuckungen und Paroxismen morgen jede noch so richtige Einsicht in die heu¬
tige Lage der Verhältnisse Lügen strafen können. Man muß sich also voll¬
kommen einverstanden damit erklären, wenn der Ausschußbericht überall erst
näheres Material abzuwarten gedenkt. Dieses Material wird unendlich schätz¬
bar sein, sobald man eben von dem Princip ausgehen wird, der Auswan¬
derungsströmung keine bestimmten Wege vorschreiben, nicht von deren Befolgung
die Fürsorge sür die Auswanderer abhängig machen zu wollen. Denn wird
nicht dieses Princip befolgt, kann man sich nicht entschließen, die Auswanderung
als einen natürlichen Proceß der Völkerbewegung zu betrachten, welcher seine
Ziele selbst wählt, so wird man bald dahin kommen, auch noch sogar die
Auswanderer in zwei große Gruppen zu scheiden : in loyale, welche die gouverne-
mental anempfohlenen Ziele wählen, und in illoyale, welche ihrer eignen
Neigung folgen. Das verhüte ein gütiges Geschick! Es wäre der sicherste
Weg, die größte Hälfte der Auswanderer in directe Feinde ihrer Heimath zu
verwandeln. Die sogenannte Organisation des Auswanderungswesens würde
dann nichts, als der Versuch einer neuen Art von hochpolizeilicher Gewissens¬
erforschung, einer Ausdehnung des deutschen Polizeigcflechts über die ganze
Welt. Es ist darum sehr wahrscheinlich auch blos eine Redewendung, wenn
der Ausschußbcricht meint, man werde an dereinstige nähere Mittheilungen
über die eventuellen Auswanderungsziele "bestimmtere Vorschläge" für die Lenkung
der Auswanderungsströme knüpfen können. Denn unmittelbar vorher hat er
selbst eingestanden, daß "alle Versuche, die Auswanderung im Großen nach
bestimmten Ländern zu lenken, vergebens" seien, und deshalb nur da, wo
schon Ansiedlungen sind, deren Interessen gefördert werden sollten.

Wenn aber auch bei der Behandlung der -deutschen Auswanderungssrage,


beim Abschied aus der Heimath, welche doch blos heimliche Auswanderung
verhindern soll und dennoch jeden Auswanderer als verdächtig behandelt, ebenso
wenig etwas an dieser Stimmung bessern, als die Aussicht, daß, wenn auch
die Auswanderung zur gemeinsamen deutschen Angelegenheit gemacht würde,
der deutsche Ausgewanderte dann blos Förderung und Unterstützung zu er¬
warten hat, falls er die octroyirten Wege und Ziele wählt.

Daß der Ausschußbericht vorläufig weder bestimmte Wege und Ziele in
Aussicht nahm, kann man nur anerkennen. „Wohin soll der Deutsche aus¬
wandern?" ist eine Frage, welche zu den offensten geHort, von denen die
Gegenwart bewegt wird. Und dies nicht erst neuerdings, aber neuerdings
wieder mehr als jemals. Denn grade das Hauptauswanderungsziel, die nord-
amerikanische Union, befindet sich in einer socialpolitischen Uebergangsepoche,
deren Entwicklungen vorläufig nicht entfernt abzusehen sind. Andere Ein¬
wanderungsländer, wie Mittelamerika, Mexiko, selbst Brasilien, scheinen eben¬
falls einer gewaltigen und entscheidenden Krisis entgegenzugehen, deren
Zuckungen und Paroxismen morgen jede noch so richtige Einsicht in die heu¬
tige Lage der Verhältnisse Lügen strafen können. Man muß sich also voll¬
kommen einverstanden damit erklären, wenn der Ausschußbericht überall erst
näheres Material abzuwarten gedenkt. Dieses Material wird unendlich schätz¬
bar sein, sobald man eben von dem Princip ausgehen wird, der Auswan¬
derungsströmung keine bestimmten Wege vorschreiben, nicht von deren Befolgung
die Fürsorge sür die Auswanderer abhängig machen zu wollen. Denn wird
nicht dieses Princip befolgt, kann man sich nicht entschließen, die Auswanderung
als einen natürlichen Proceß der Völkerbewegung zu betrachten, welcher seine
Ziele selbst wählt, so wird man bald dahin kommen, auch noch sogar die
Auswanderer in zwei große Gruppen zu scheiden : in loyale, welche die gouverne-
mental anempfohlenen Ziele wählen, und in illoyale, welche ihrer eignen
Neigung folgen. Das verhüte ein gütiges Geschick! Es wäre der sicherste
Weg, die größte Hälfte der Auswanderer in directe Feinde ihrer Heimath zu
verwandeln. Die sogenannte Organisation des Auswanderungswesens würde
dann nichts, als der Versuch einer neuen Art von hochpolizeilicher Gewissens¬
erforschung, einer Ausdehnung des deutschen Polizeigcflechts über die ganze
Welt. Es ist darum sehr wahrscheinlich auch blos eine Redewendung, wenn
der Ausschußbcricht meint, man werde an dereinstige nähere Mittheilungen
über die eventuellen Auswanderungsziele „bestimmtere Vorschläge" für die Lenkung
der Auswanderungsströme knüpfen können. Denn unmittelbar vorher hat er
selbst eingestanden, daß „alle Versuche, die Auswanderung im Großen nach
bestimmten Ländern zu lenken, vergebens" seien, und deshalb nur da, wo
schon Ansiedlungen sind, deren Interessen gefördert werden sollten.

Wenn aber auch bei der Behandlung der -deutschen Auswanderungssrage,


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[0272] beim Abschied aus der Heimath, welche doch blos heimliche Auswanderung verhindern soll und dennoch jeden Auswanderer als verdächtig behandelt, ebenso wenig etwas an dieser Stimmung bessern, als die Aussicht, daß, wenn auch die Auswanderung zur gemeinsamen deutschen Angelegenheit gemacht würde, der deutsche Ausgewanderte dann blos Förderung und Unterstützung zu er¬ warten hat, falls er die octroyirten Wege und Ziele wählt. Daß der Ausschußbericht vorläufig weder bestimmte Wege und Ziele in Aussicht nahm, kann man nur anerkennen. „Wohin soll der Deutsche aus¬ wandern?" ist eine Frage, welche zu den offensten geHort, von denen die Gegenwart bewegt wird. Und dies nicht erst neuerdings, aber neuerdings wieder mehr als jemals. Denn grade das Hauptauswanderungsziel, die nord- amerikanische Union, befindet sich in einer socialpolitischen Uebergangsepoche, deren Entwicklungen vorläufig nicht entfernt abzusehen sind. Andere Ein¬ wanderungsländer, wie Mittelamerika, Mexiko, selbst Brasilien, scheinen eben¬ falls einer gewaltigen und entscheidenden Krisis entgegenzugehen, deren Zuckungen und Paroxismen morgen jede noch so richtige Einsicht in die heu¬ tige Lage der Verhältnisse Lügen strafen können. Man muß sich also voll¬ kommen einverstanden damit erklären, wenn der Ausschußbericht überall erst näheres Material abzuwarten gedenkt. Dieses Material wird unendlich schätz¬ bar sein, sobald man eben von dem Princip ausgehen wird, der Auswan¬ derungsströmung keine bestimmten Wege vorschreiben, nicht von deren Befolgung die Fürsorge sür die Auswanderer abhängig machen zu wollen. Denn wird nicht dieses Princip befolgt, kann man sich nicht entschließen, die Auswanderung als einen natürlichen Proceß der Völkerbewegung zu betrachten, welcher seine Ziele selbst wählt, so wird man bald dahin kommen, auch noch sogar die Auswanderer in zwei große Gruppen zu scheiden : in loyale, welche die gouverne- mental anempfohlenen Ziele wählen, und in illoyale, welche ihrer eignen Neigung folgen. Das verhüte ein gütiges Geschick! Es wäre der sicherste Weg, die größte Hälfte der Auswanderer in directe Feinde ihrer Heimath zu verwandeln. Die sogenannte Organisation des Auswanderungswesens würde dann nichts, als der Versuch einer neuen Art von hochpolizeilicher Gewissens¬ erforschung, einer Ausdehnung des deutschen Polizeigcflechts über die ganze Welt. Es ist darum sehr wahrscheinlich auch blos eine Redewendung, wenn der Ausschußbcricht meint, man werde an dereinstige nähere Mittheilungen über die eventuellen Auswanderungsziele „bestimmtere Vorschläge" für die Lenkung der Auswanderungsströme knüpfen können. Denn unmittelbar vorher hat er selbst eingestanden, daß „alle Versuche, die Auswanderung im Großen nach bestimmten Ländern zu lenken, vergebens" seien, und deshalb nur da, wo schon Ansiedlungen sind, deren Interessen gefördert werden sollten. Wenn aber auch bei der Behandlung der -deutschen Auswanderungssrage,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/272>, abgerufen am 23.07.2024.