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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Auswanderungslustigen vom grünen Tisch aus g. xriori als mißliebige, leicht¬
sinnige, verdächtige Subjecte angesehen zu werden pflegten und das Bekannt¬
werden derartiger Verabredungen irgendwelche polizeiliche Maßregelungen
heraufbeschwören würde.

Es ist übrigens auch jedenfalls als Ergebniß ziemlich neuer Ansichten in
den leitenden Kreisen anzusehen, wenn der Bericht der bundestäglichen Com¬
mission unumwunden anerkennt, daß jedes directe Eingreifen der Staaten in
das Auswanderungswesen, namentlich mit Hemmungen und Erschwerungen,
nur vom Uebel sei. Denn beinahe erst nachdem das chronische Auswanderungs¬
übel zu einer nationalen Calamität herangewachsen war, schien sich die
Ueberzeugung durchgreifender Bahn zu brechen, daß diese Völkerbewegung im
Großen und Ganzen nicht durch Polizeimaßregeln zu beherrschen sei. Man
concentrirte diese jetzt zwar mit verschärfter Strenge auf die militär-
dienstvflichtigen Altersclassen; allein man begann auch jetzt erst allgemeiner
das Princip, daß die Entlassung aus dem Staats- und Heimathsverbande
niemandem ohne speciellen Grund versagt werden dürfe -- also das von der
Bundesverfassung garantirte Freizügigkeitsrecht -- zur praktischen Wahrheit wer¬
den zu lassen. Man betrachtete diejenigen, welche einen Auswanderungsschein
gelöst, nicht mehr unmittelbar wie verlorene Söhne, sondern begann einerseits
mit den Privatvereinen für Berathung der Auswanderer anzuknüpfen, anderer¬
seits das Verfahren der Agenten gegen die Auswanderer schärfer zu contro-
liren. endlich den Ankömmlingen auf fremdem Boden durch Consuln und diplo¬
matische Agenten wenigstens einigen Anhalt zu gewähren -- so gering dieser
auch sein mochte. Aber diese Wendung der gouvernementalen Ansicht fällt
erst in den Anfang der fünfziger Jahre. Vorher hatte man die Auswanderung
mehr oder minder noch immer mit einem Nachklang jener Stimmung behan¬
delt, welche in der Mitte des vorigen Jahrhunderts zur Herrschaft gelangt
gewesen war. Als damals von 1756 bis 1766 etwa 200,000 Menschen aus
Deutschland ausgewandert waren und alle Maßregeln der Einzelstaaten sich
nutzlos erwiesen, wurde von Reichswegen der Verkauf von Gütern für rechts-
ungiltig erklärt, jede Vermögensauszahlung zum Zweck der Auswanderung
verboten -- und dennoch berechnete man die ausgewanderten Deutschen schon
wieder im Jahre 1784 auf 17,000, obgleich z. B. eine bairische Verordnung
von 1766 jeden Anwerber zur Auswanderung (nach Spanien, nebst den spa¬
nischen Colonien) noch überdies mit dem Tod am Galgen bedroht hatte.
Nur in Baden hatte dann wieder um 1846 der Staat den Gang der Aus¬
wanderung fürsorglich sür die Auswanderer zu überwachen begonnen; ander¬
wärts hatte man blos mit allerlei Verboten experimentirt. Von den Hafen¬
plätzen war Bremen der erste, welcher die Einhaltung der Auswanderungs-
contracte durch die Rheder einer genauen Controle unterwarf; erst 1855 folgte


Auswanderungslustigen vom grünen Tisch aus g. xriori als mißliebige, leicht¬
sinnige, verdächtige Subjecte angesehen zu werden pflegten und das Bekannt¬
werden derartiger Verabredungen irgendwelche polizeiliche Maßregelungen
heraufbeschwören würde.

Es ist übrigens auch jedenfalls als Ergebniß ziemlich neuer Ansichten in
den leitenden Kreisen anzusehen, wenn der Bericht der bundestäglichen Com¬
mission unumwunden anerkennt, daß jedes directe Eingreifen der Staaten in
das Auswanderungswesen, namentlich mit Hemmungen und Erschwerungen,
nur vom Uebel sei. Denn beinahe erst nachdem das chronische Auswanderungs¬
übel zu einer nationalen Calamität herangewachsen war, schien sich die
Ueberzeugung durchgreifender Bahn zu brechen, daß diese Völkerbewegung im
Großen und Ganzen nicht durch Polizeimaßregeln zu beherrschen sei. Man
concentrirte diese jetzt zwar mit verschärfter Strenge auf die militär-
dienstvflichtigen Altersclassen; allein man begann auch jetzt erst allgemeiner
das Princip, daß die Entlassung aus dem Staats- und Heimathsverbande
niemandem ohne speciellen Grund versagt werden dürfe — also das von der
Bundesverfassung garantirte Freizügigkeitsrecht — zur praktischen Wahrheit wer¬
den zu lassen. Man betrachtete diejenigen, welche einen Auswanderungsschein
gelöst, nicht mehr unmittelbar wie verlorene Söhne, sondern begann einerseits
mit den Privatvereinen für Berathung der Auswanderer anzuknüpfen, anderer¬
seits das Verfahren der Agenten gegen die Auswanderer schärfer zu contro-
liren. endlich den Ankömmlingen auf fremdem Boden durch Consuln und diplo¬
matische Agenten wenigstens einigen Anhalt zu gewähren — so gering dieser
auch sein mochte. Aber diese Wendung der gouvernementalen Ansicht fällt
erst in den Anfang der fünfziger Jahre. Vorher hatte man die Auswanderung
mehr oder minder noch immer mit einem Nachklang jener Stimmung behan¬
delt, welche in der Mitte des vorigen Jahrhunderts zur Herrschaft gelangt
gewesen war. Als damals von 1756 bis 1766 etwa 200,000 Menschen aus
Deutschland ausgewandert waren und alle Maßregeln der Einzelstaaten sich
nutzlos erwiesen, wurde von Reichswegen der Verkauf von Gütern für rechts-
ungiltig erklärt, jede Vermögensauszahlung zum Zweck der Auswanderung
verboten — und dennoch berechnete man die ausgewanderten Deutschen schon
wieder im Jahre 1784 auf 17,000, obgleich z. B. eine bairische Verordnung
von 1766 jeden Anwerber zur Auswanderung (nach Spanien, nebst den spa¬
nischen Colonien) noch überdies mit dem Tod am Galgen bedroht hatte.
Nur in Baden hatte dann wieder um 1846 der Staat den Gang der Aus¬
wanderung fürsorglich sür die Auswanderer zu überwachen begonnen; ander¬
wärts hatte man blos mit allerlei Verboten experimentirt. Von den Hafen¬
plätzen war Bremen der erste, welcher die Einhaltung der Auswanderungs-
contracte durch die Rheder einer genauen Controle unterwarf; erst 1855 folgte


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[0268] Auswanderungslustigen vom grünen Tisch aus g. xriori als mißliebige, leicht¬ sinnige, verdächtige Subjecte angesehen zu werden pflegten und das Bekannt¬ werden derartiger Verabredungen irgendwelche polizeiliche Maßregelungen heraufbeschwören würde. Es ist übrigens auch jedenfalls als Ergebniß ziemlich neuer Ansichten in den leitenden Kreisen anzusehen, wenn der Bericht der bundestäglichen Com¬ mission unumwunden anerkennt, daß jedes directe Eingreifen der Staaten in das Auswanderungswesen, namentlich mit Hemmungen und Erschwerungen, nur vom Uebel sei. Denn beinahe erst nachdem das chronische Auswanderungs¬ übel zu einer nationalen Calamität herangewachsen war, schien sich die Ueberzeugung durchgreifender Bahn zu brechen, daß diese Völkerbewegung im Großen und Ganzen nicht durch Polizeimaßregeln zu beherrschen sei. Man concentrirte diese jetzt zwar mit verschärfter Strenge auf die militär- dienstvflichtigen Altersclassen; allein man begann auch jetzt erst allgemeiner das Princip, daß die Entlassung aus dem Staats- und Heimathsverbande niemandem ohne speciellen Grund versagt werden dürfe — also das von der Bundesverfassung garantirte Freizügigkeitsrecht — zur praktischen Wahrheit wer¬ den zu lassen. Man betrachtete diejenigen, welche einen Auswanderungsschein gelöst, nicht mehr unmittelbar wie verlorene Söhne, sondern begann einerseits mit den Privatvereinen für Berathung der Auswanderer anzuknüpfen, anderer¬ seits das Verfahren der Agenten gegen die Auswanderer schärfer zu contro- liren. endlich den Ankömmlingen auf fremdem Boden durch Consuln und diplo¬ matische Agenten wenigstens einigen Anhalt zu gewähren — so gering dieser auch sein mochte. Aber diese Wendung der gouvernementalen Ansicht fällt erst in den Anfang der fünfziger Jahre. Vorher hatte man die Auswanderung mehr oder minder noch immer mit einem Nachklang jener Stimmung behan¬ delt, welche in der Mitte des vorigen Jahrhunderts zur Herrschaft gelangt gewesen war. Als damals von 1756 bis 1766 etwa 200,000 Menschen aus Deutschland ausgewandert waren und alle Maßregeln der Einzelstaaten sich nutzlos erwiesen, wurde von Reichswegen der Verkauf von Gütern für rechts- ungiltig erklärt, jede Vermögensauszahlung zum Zweck der Auswanderung verboten — und dennoch berechnete man die ausgewanderten Deutschen schon wieder im Jahre 1784 auf 17,000, obgleich z. B. eine bairische Verordnung von 1766 jeden Anwerber zur Auswanderung (nach Spanien, nebst den spa¬ nischen Colonien) noch überdies mit dem Tod am Galgen bedroht hatte. Nur in Baden hatte dann wieder um 1846 der Staat den Gang der Aus¬ wanderung fürsorglich sür die Auswanderer zu überwachen begonnen; ander¬ wärts hatte man blos mit allerlei Verboten experimentirt. Von den Hafen¬ plätzen war Bremen der erste, welcher die Einhaltung der Auswanderungs- contracte durch die Rheder einer genauen Controle unterwarf; erst 1855 folgte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/268>, abgerufen am 23.07.2024.