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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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kam mir wunderlich, ja widerlich vor und meine Mutter, die zu viel praktischen
Verstand besaß, machte auch sonst keine Erwähnung davon/' -- Aus dem
Gymnasium von guten Theologen tüchtig vorbereitet, bezog er Ostern 1789
die Universität Marburg. Er war ganz in die neue rationalistische Theologie
verfallen und ärgerte seine Schwester nicht selten durch seine freien Meinungen.
Ein bibelfester Pietist, dem er sich als Theologen zu erkennen gab, machte
ihn auf das Gewagte eines solchen Entschlusses aufmerksam und was es auf
sich habe, dereinst vor Gottes Thron für das Heil so vieler Seelen Rede
stehn zu müssen. In der That gab er das theologische Studium auf. "Es
dauerte nicht gar lange, so erschien mir jene Neologic seicht, selbst abgeschmackt.
Ich erinnere mich noch, wie ich nachher in die Vorlesungen eines Professors,
der die erhabensten Psalmen aus eine erbarmenswerthe Weise in wässerige
Prosa verwandelte, den Wolfischen Homer mitnahm, um mit Rettung meiner
körperlichen Gegenwart ein Antidotum für die Langeweile zu haben." Herbst
1790 ging er nach Jena und schloß sich am engsten an Griesbach und Schütz
an. Auch Schillers Vorlesungen horte er mit Aufmerksamkeit und Verehrung.
Der Kantischen Philosophie, die damals nicht umgangen werden konnte,
widmete er ein angestrengtes, aber nicht sehr erfolgreiches Studium. Die
vielen Arbeiten hatten den jungen Mann, der früher durch rüstige körperliche
Anstrengungen seine Gesundheit gekräftigt hatte, sehr heruntergebracht; selbst
Novalis, mit dem er befreundet war, warnte thu vor Uebertreibung in den
Studien. Als er im folgenden Jahr nach Marburg zurückkehrte, lösten ihm
Lessings Laakoon und die Winckelmcinnschen Schriften manche Räthsel über
das classische Alterthum. "Zur Musik habe ich von Natur keine Anlage;
und so sehr guter Gesang und Kirchenmusik noch jetzt mich ergreifen, so fehlt
es doch an aller theoretischen Erkenntniß. In diesem Gefühle habe ich auch
die Metrik um so mehr zur Seite liegen lassen, als ich aus Hermanns Schriften,
die ich, später studirte, ersehn hatte, wie mir die eigentlichen Geheimnisse die¬
ser Wissenschaft doch ewig verborgen bleiben würden." Er suchte dem Alter¬
thum historisch beizukommen und stellte schon damals Betrachtungen über die
Naturgeschichte der Sage an. "Ich hörte als Kind sehr aufmerksam zu,
wenn meine neunzigjährige Großmuhme manchmal aus den Erzählungen ihrer
Eltern vom dreißigjährigen Kriege sprach. Die Hauptzüge waren in Strophen
aus Volksliedern aufbehalten; und es ist mir seitdem, was man auch gegen
Niebuhr sagen mag, die Ueberzeugung geblieben, wie sogar bei schreibenden
Völkern der geschichtliche Grundstoff in Liedern von Munde zu Munde über¬
geht." Uebrigens war er in der philologischen Kritik sehr streng und hatte
fast gar kein Vertrauen in seine natürlichen Kräfte^: nur durch einen ungemessenen
Fleiß glaubte er den Abgang des Genius ersetzen zu können. Mit einigen
Freunden gemeinschaftlich legte er sich auf Privatunterricht. Eine Hauslehrer-


kam mir wunderlich, ja widerlich vor und meine Mutter, die zu viel praktischen
Verstand besaß, machte auch sonst keine Erwähnung davon/' — Aus dem
Gymnasium von guten Theologen tüchtig vorbereitet, bezog er Ostern 1789
die Universität Marburg. Er war ganz in die neue rationalistische Theologie
verfallen und ärgerte seine Schwester nicht selten durch seine freien Meinungen.
Ein bibelfester Pietist, dem er sich als Theologen zu erkennen gab, machte
ihn auf das Gewagte eines solchen Entschlusses aufmerksam und was es auf
sich habe, dereinst vor Gottes Thron für das Heil so vieler Seelen Rede
stehn zu müssen. In der That gab er das theologische Studium auf. „Es
dauerte nicht gar lange, so erschien mir jene Neologic seicht, selbst abgeschmackt.
Ich erinnere mich noch, wie ich nachher in die Vorlesungen eines Professors,
der die erhabensten Psalmen aus eine erbarmenswerthe Weise in wässerige
Prosa verwandelte, den Wolfischen Homer mitnahm, um mit Rettung meiner
körperlichen Gegenwart ein Antidotum für die Langeweile zu haben." Herbst
1790 ging er nach Jena und schloß sich am engsten an Griesbach und Schütz
an. Auch Schillers Vorlesungen horte er mit Aufmerksamkeit und Verehrung.
Der Kantischen Philosophie, die damals nicht umgangen werden konnte,
widmete er ein angestrengtes, aber nicht sehr erfolgreiches Studium. Die
vielen Arbeiten hatten den jungen Mann, der früher durch rüstige körperliche
Anstrengungen seine Gesundheit gekräftigt hatte, sehr heruntergebracht; selbst
Novalis, mit dem er befreundet war, warnte thu vor Uebertreibung in den
Studien. Als er im folgenden Jahr nach Marburg zurückkehrte, lösten ihm
Lessings Laakoon und die Winckelmcinnschen Schriften manche Räthsel über
das classische Alterthum. „Zur Musik habe ich von Natur keine Anlage;
und so sehr guter Gesang und Kirchenmusik noch jetzt mich ergreifen, so fehlt
es doch an aller theoretischen Erkenntniß. In diesem Gefühle habe ich auch
die Metrik um so mehr zur Seite liegen lassen, als ich aus Hermanns Schriften,
die ich, später studirte, ersehn hatte, wie mir die eigentlichen Geheimnisse die¬
ser Wissenschaft doch ewig verborgen bleiben würden." Er suchte dem Alter¬
thum historisch beizukommen und stellte schon damals Betrachtungen über die
Naturgeschichte der Sage an. „Ich hörte als Kind sehr aufmerksam zu,
wenn meine neunzigjährige Großmuhme manchmal aus den Erzählungen ihrer
Eltern vom dreißigjährigen Kriege sprach. Die Hauptzüge waren in Strophen
aus Volksliedern aufbehalten; und es ist mir seitdem, was man auch gegen
Niebuhr sagen mag, die Ueberzeugung geblieben, wie sogar bei schreibenden
Völkern der geschichtliche Grundstoff in Liedern von Munde zu Munde über¬
geht." Uebrigens war er in der philologischen Kritik sehr streng und hatte
fast gar kein Vertrauen in seine natürlichen Kräfte^: nur durch einen ungemessenen
Fleiß glaubte er den Abgang des Genius ersetzen zu können. Mit einigen
Freunden gemeinschaftlich legte er sich auf Privatunterricht. Eine Hauslehrer-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/250>, abgerufen am 22.07.2024.