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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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in der Nähe anzusehen. Durch eine Art passiven Widerstand, der von Wien
aus geschickt geleitet wurde, von Position zu Position vertrieben, muß die fran¬
zösische Regierung endlich erleben, daß die Türkei, von den andern Mächten
gestützt, als Grundlage zu Verhandlungen über Montenegro die Anerkennung
der türkischen Oberherrlichkeit fordert, also gerade das, was man so gern ihr
hatte entwinden wollen.

Wer die Entwicklungen, die kühnen Anflüge und das regelmäßige Zurück¬
schreiten französischer Hoffnungspläne seit dem letzten pariser Frieden be¬
obachtet hat, dem kann es nicht an Analogien zu den oben geschilderten
Vorgängen fehlen; es gilt das namentlich auch von der noch vbschwebenden
offenen Frage der Gestaltung des Rumänenthums. Es sieht fast danach aus,
als ob dein Streben der französischen Regierung, jegliche Wunde im euro¬
päischen Staatsleben nicht zuzudecken, sondern sie möglichst zu erweitern, der
feste Entschluß der übrigen europäischen Regierungen entspreche, sie nicht er¬
weitern zu lassen. Selbst Rußland scheint nicht besonders geneigt zu sein,
mit dem modernen französischen Cäsarenthum zu gehn; sein Wollen und
vielleicht auch seine Zukunft sind ihm wol zu unberechenbar.

Also Europa schlaft unter den Sirenentöncn französischer Rundschreiben
nicht ein, denn die französischen Rüstungen sind nahezu vollendet, und an
"offenen Fragen" kann es für die Diplomatie niemals, am wenigsten in
heutiger Zeit fehlen. Es kann ja doch kommen, daß irgend eine Wunde
nicht zuseiten will, daß sie vielmehr sort und fort eitert und endlich den
ganzen Organismus ergreift. Es kann ja auch geschehen, daß der Kaiser,
der ewigen diplomatischen Niederlagen müde, gelegentlich die Lösung auf
andere Weise bewerkstelligt sehen will; es kann überhaupt im heutigen Frank¬
reich sich vielerlei ereignen. Ob Espinasse oder Delangle. die innere Lage
Frankreichs bleibt von demselben unveränderlichen Gedanken getragen und
nicht minder bleiben die Entwicklungen nach außen dieselben. Delangle statt
Espinasse bekundet nur die Thatsache, daß das Kaiserthum im Innern sich
nahe in dieselbe Sackgasse verrannt hatte, wie im Auslande. Aber um so
unvermeidlicher und heftiger kann die Explosion werden.

Inmitten so vieler Ungewißheiten und Ursachen zur Beunruhigung ist leider,
müssen wir hinzusetzen, die Lage des deutschen Vaterlandes die ungewisseste
und darum auch die beunruhigendste- Wenn wir nur irgendwo in Deutschland
das Bewußtsein der geschichtlichen Nothwendigkeiten und den Willen zur That¬
kraft erblickten! Aber den meisten Regierungen liegt die Wiederherstellung
junkerlicher Ansprüche und die Fortsetzung der Demokratenjagd noch immer
näher, als irgend eine Sorge über das, was einmal kommen könnte. Kaum
etwas kann so sehr dafür sprechen, daß die deutschen Regierungen nicht immer
sich mit dem Bewußtsein des Staats identificirt haben, als die bundestägliche Unter-


in der Nähe anzusehen. Durch eine Art passiven Widerstand, der von Wien
aus geschickt geleitet wurde, von Position zu Position vertrieben, muß die fran¬
zösische Regierung endlich erleben, daß die Türkei, von den andern Mächten
gestützt, als Grundlage zu Verhandlungen über Montenegro die Anerkennung
der türkischen Oberherrlichkeit fordert, also gerade das, was man so gern ihr
hatte entwinden wollen.

Wer die Entwicklungen, die kühnen Anflüge und das regelmäßige Zurück¬
schreiten französischer Hoffnungspläne seit dem letzten pariser Frieden be¬
obachtet hat, dem kann es nicht an Analogien zu den oben geschilderten
Vorgängen fehlen; es gilt das namentlich auch von der noch vbschwebenden
offenen Frage der Gestaltung des Rumänenthums. Es sieht fast danach aus,
als ob dein Streben der französischen Regierung, jegliche Wunde im euro¬
päischen Staatsleben nicht zuzudecken, sondern sie möglichst zu erweitern, der
feste Entschluß der übrigen europäischen Regierungen entspreche, sie nicht er¬
weitern zu lassen. Selbst Rußland scheint nicht besonders geneigt zu sein,
mit dem modernen französischen Cäsarenthum zu gehn; sein Wollen und
vielleicht auch seine Zukunft sind ihm wol zu unberechenbar.

Also Europa schlaft unter den Sirenentöncn französischer Rundschreiben
nicht ein, denn die französischen Rüstungen sind nahezu vollendet, und an
„offenen Fragen" kann es für die Diplomatie niemals, am wenigsten in
heutiger Zeit fehlen. Es kann ja doch kommen, daß irgend eine Wunde
nicht zuseiten will, daß sie vielmehr sort und fort eitert und endlich den
ganzen Organismus ergreift. Es kann ja auch geschehen, daß der Kaiser,
der ewigen diplomatischen Niederlagen müde, gelegentlich die Lösung auf
andere Weise bewerkstelligt sehen will; es kann überhaupt im heutigen Frank¬
reich sich vielerlei ereignen. Ob Espinasse oder Delangle. die innere Lage
Frankreichs bleibt von demselben unveränderlichen Gedanken getragen und
nicht minder bleiben die Entwicklungen nach außen dieselben. Delangle statt
Espinasse bekundet nur die Thatsache, daß das Kaiserthum im Innern sich
nahe in dieselbe Sackgasse verrannt hatte, wie im Auslande. Aber um so
unvermeidlicher und heftiger kann die Explosion werden.

Inmitten so vieler Ungewißheiten und Ursachen zur Beunruhigung ist leider,
müssen wir hinzusetzen, die Lage des deutschen Vaterlandes die ungewisseste
und darum auch die beunruhigendste- Wenn wir nur irgendwo in Deutschland
das Bewußtsein der geschichtlichen Nothwendigkeiten und den Willen zur That¬
kraft erblickten! Aber den meisten Regierungen liegt die Wiederherstellung
junkerlicher Ansprüche und die Fortsetzung der Demokratenjagd noch immer
näher, als irgend eine Sorge über das, was einmal kommen könnte. Kaum
etwas kann so sehr dafür sprechen, daß die deutschen Regierungen nicht immer
sich mit dem Bewußtsein des Staats identificirt haben, als die bundestägliche Unter-


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[0114] in der Nähe anzusehen. Durch eine Art passiven Widerstand, der von Wien aus geschickt geleitet wurde, von Position zu Position vertrieben, muß die fran¬ zösische Regierung endlich erleben, daß die Türkei, von den andern Mächten gestützt, als Grundlage zu Verhandlungen über Montenegro die Anerkennung der türkischen Oberherrlichkeit fordert, also gerade das, was man so gern ihr hatte entwinden wollen. Wer die Entwicklungen, die kühnen Anflüge und das regelmäßige Zurück¬ schreiten französischer Hoffnungspläne seit dem letzten pariser Frieden be¬ obachtet hat, dem kann es nicht an Analogien zu den oben geschilderten Vorgängen fehlen; es gilt das namentlich auch von der noch vbschwebenden offenen Frage der Gestaltung des Rumänenthums. Es sieht fast danach aus, als ob dein Streben der französischen Regierung, jegliche Wunde im euro¬ päischen Staatsleben nicht zuzudecken, sondern sie möglichst zu erweitern, der feste Entschluß der übrigen europäischen Regierungen entspreche, sie nicht er¬ weitern zu lassen. Selbst Rußland scheint nicht besonders geneigt zu sein, mit dem modernen französischen Cäsarenthum zu gehn; sein Wollen und vielleicht auch seine Zukunft sind ihm wol zu unberechenbar. Also Europa schlaft unter den Sirenentöncn französischer Rundschreiben nicht ein, denn die französischen Rüstungen sind nahezu vollendet, und an „offenen Fragen" kann es für die Diplomatie niemals, am wenigsten in heutiger Zeit fehlen. Es kann ja doch kommen, daß irgend eine Wunde nicht zuseiten will, daß sie vielmehr sort und fort eitert und endlich den ganzen Organismus ergreift. Es kann ja auch geschehen, daß der Kaiser, der ewigen diplomatischen Niederlagen müde, gelegentlich die Lösung auf andere Weise bewerkstelligt sehen will; es kann überhaupt im heutigen Frank¬ reich sich vielerlei ereignen. Ob Espinasse oder Delangle. die innere Lage Frankreichs bleibt von demselben unveränderlichen Gedanken getragen und nicht minder bleiben die Entwicklungen nach außen dieselben. Delangle statt Espinasse bekundet nur die Thatsache, daß das Kaiserthum im Innern sich nahe in dieselbe Sackgasse verrannt hatte, wie im Auslande. Aber um so unvermeidlicher und heftiger kann die Explosion werden. Inmitten so vieler Ungewißheiten und Ursachen zur Beunruhigung ist leider, müssen wir hinzusetzen, die Lage des deutschen Vaterlandes die ungewisseste und darum auch die beunruhigendste- Wenn wir nur irgendwo in Deutschland das Bewußtsein der geschichtlichen Nothwendigkeiten und den Willen zur That¬ kraft erblickten! Aber den meisten Regierungen liegt die Wiederherstellung junkerlicher Ansprüche und die Fortsetzung der Demokratenjagd noch immer näher, als irgend eine Sorge über das, was einmal kommen könnte. Kaum etwas kann so sehr dafür sprechen, daß die deutschen Regierungen nicht immer sich mit dem Bewußtsein des Staats identificirt haben, als die bundestägliche Unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/114>, abgerufen am 25.08.2024.